Shitao (ca. 1641–1707) – als Prinz dem Tod entronnen und im Kloster untergetaucht, als Maler bis heute unvergessen

Seine Gemälde befinden sich in den Sammlungen berühmter Museen, sein Name steht in allen ausführlichen Abhandlungen zur Geschichte der chinesischen Malerei. Shitao gehört zu den bedeutendsten Malern Chinas. Und nicht nur das. Er verfasste auch theoretische Texte zur chinesischen Ästhetik, die zu den besten zählen, die je geschrieben wurden.

Shitao, Porträt, 1674 © Wikimedia Commons

Vor einigen Monaten hatte ich in einem Artikel über den Barockmaler Wolfgang Heimbach (1613-1679) den Begriff Wandermaler erwähnt. Nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) zog es manchen deutschen Maler in Länder wie die Niederlande, Italien und Österreich, auf der Suche nach Inspiration und neuen Auftraggebern. Marie Wang, Studentin der Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität, las den Artikel und erzählte mir von Shitao, denn auch in China hatte es das Phänomen der Wandermaler gegeben. Aus ähnlichen Gründen und wie im Falle Shitaos ebenfalls im 17. Jahrhundert.

Wer war Shitao?

Der Name Shitao bedeutet übersetzt Steinerne Woge. Sein wahrer Name lautete Zhu Ruoji und seine Familie gehörte zum Kaiserhaus der Ming-Dynastie. Diese war 1368 von Zhu Yuanzhang gegründet worden, dem Sohn eines einfachen Landarbeiters. Es war ihm gelungen, an der Spitze einer Aufstandsbewegung die mongolischen Herrscher der vorangegangenen Yuan-Dynastie zu vertreiben.

Zhu Yuanzhang, Gründer der Ming-Dynastie © Wikimedia Commons

Zhu Yuanzhang erhob sich zum ersten Kaiser der Ming-Dynastie. Von seinem älteren Bruder, Zhu Zanyi, stammte Shitao ab.

Die Ming-Dynastie erlebte glanzvolle Zeiten und währte über 270 Jahre. Doch schließlich führten schlechte Staatsführung, Misswirtschaft, Cliquenkämpfe am Kaiserhof und Naturkatastrophen zu ihrem Niedergang. Hunger und Not lösten verzweifelte Aufstände aus. Feindliche Volksstämme jenseits der Grenzen erkannten die Schwäche Chinas und fielen in Raubzügen über Teile des Landes her. Schließlich rottete sich in der Provinz Shaanxi eine Rebellenarmee zusammen und zog 1644 plündernd und mordend durchs Land, besetzte die Hauptstadt Beijing und wütete dort wochenlang. Die kaiserlichen Truppen waren zu schwach, um dem Grauen Einhalt zu gebieten. Der Kaiser, Zhu Youjian, beging daraufhin Selbstmord. Angesichts der verheerenden Lage rief der kaiserliche General Wu Sangui die Mandschuren zu Hilfe, einen tungusischen Volksstamm aus dem angrenzenden Nordosten. Den Mandschuren gelang es nach vierzig Tagen, die Rebellen zu vertreiben, doch statt anschließend abzuziehen, blieben sie im Land, besetzten weite Teile Chinas und gründeten die Qing-Dynastie.

Shitao war zu diesem Zeitpunkt noch ein Kind von etwa drei, vier Jahren, vielleicht auch schon älter. Sein genaues Geburtsdatum ist umstritten.

Es sollten noch weitere vier Jahrzehnte vergehen, bis die Mandschuren das gesamte chinesische Reich erobert hatten. Vor allem der Süden des Landes mit seinen reichen Handelsstädten leistete erbitterten Widerstand. Dorthin waren Mitglieder der kaiserlichen Herrscherfamilie, Ming-Loyalisten und Rebellen geflohen. Entsetzliche Massaker spielten sich dort ab mit vielen Hunderttausend Toten. Erst 1683 gelang es den Mandschuren, auch die letzten Truppen der Ming vernichtend zu schlagen und ihre Macht als neue Herrscher endgültig zu etablieren.

Shitao kam in der südchinesischen Provinz Guangxi zur Welt. Sein Vater, Zhu Xiangjia, soll versucht haben, sich an die Spitze des Widerstands zu setzen und sich zum Kaiser einer Südlichen Ming-Dynastie zu erheben. Doch er scheiterte. Ob von Widersachern aus den eigenen Reihen, die lieber einen anderen als Regenten sehen wollten, oder von den Qing zu Fall gebracht, scheint nicht ganz klar. Jedenfalls wurde Zhu Xiangjia getötet und mit ihm seine Familie. Mit einer Ausnahme: Shitao.

Marie Wang: „Shitao hat sein Leben einzig und allein einem ergebenen Diener zu verdanken, einem Eunuchen, der mit ihm flüchtete.“

Ein Leben in Anonymität

Der Junge fand in einem buddhistischen Kloster Unterschlupf, wo er unter dem Namen Daoji zum Mönch erzogen und in die Lehren des Chan-(Zen-)Buddhismus eingeführt wurde.

In politisch turbulenten Zeiten wie nach einem Dynastiewechsel kam es häufig vor, dass Mitglieder der alten Eliten in Klöstern untertauchten oder ein Einsiedlerleben in ländlicher Abgeschiedenheit wählten, statt sich dem neuen Herrscherhaus zu beugen.

Shitao hätte in dem Kloster wahrscheinlich ein ruhiges, zurückgezogenes Leben führen können, doch es sollte anders kommen. Denn schon früh zeigte sich sein ungewöhnliches Talent für Kalligraphie und Malerei. Mehrere Meister unterrichteten ihn, von denen einer Shitao aufforderte, in die Welt hinauszugehen und die Landschaften zu erkunden, die er später zu Papier bringen würde. Das tat Shitao. Als malender Mönch durchstreifte er Berge, Täler und Wälder, wanderte an Flüssen und Seen entlang und wurde langsam vor allem als Landschaftsmaler bekannt.

Landschaft © Metropolitan Museum of Art

Er lernte einflussreiche Menschen aus den lokalen Eliten kennen, Künstler, Gelehrte, Kaufleute, besuchte Klöster und gewann Freunde. Doch auf den Erfolgen lastete stets die Notwendigkeit der Geheimhaltung seiner wahren Identität. Mehr als zwanzig verschiedene Namen soll er sich im Laufe seines Lebens gegeben haben, darunter der Ehrwürdige Blinde, Jünger der Großen Reinheit oder – was für seinen Humor spricht – Mönch Bittermelone und Großer Tuschedummkopf.

Marie Wang: „Um 1680 zog Shitao nach Nanjing, um in dem berühmten Kloster Bao’en Si ein Amt zu übernehmen. Dort traf er im Jahre 1684 Kaiser Kangxi.“

Kangxi, zweiter Kaiser der Qing-Dynastie © Wikimedia Commons

Kangxi (1654-1722), zweiter Kaiser der Qing-Dynastie, regierte insgesamt 61 Jahre lang. Er zählt zu den bedeutendsten Kaisern in der chinesischen Geschichte, ein tatkräftiger, fleißiger Herrscher, der das Land in eine Blütezeit führte. Als Sohn eines mandschurischen Vaters und einer han-chinesischen Mutter lag ihm die Aussöhnung von Mandschuren und Chinesen am Herzen. Wohl auch deshalb unternahm er insgesamt sechs Inspektionsreisen in den Süden, wo sich der Widerstand gegen die Qing am längsten gehalten hatte. Als Mandschu bewunderte er die chinesische Kultur, war ein Förderer von Kunst und Wissenschaften, war aufgeschlossen gegenüber neuen Ideen und ließ sich von verschiedensten Personen beraten, wie von dem belgischen Jesuiten Ferdinand Verbiest.

Während seiner ersten Inspektionsreise in den Süden besuchte Kangxi in Nanjing das Kloster Bao’ensi, eben jenes, in dem sich Shitao aufhielt. Und so kam es zu einer Begegnung der beiden, was wohl nur möglich war, weil Shitao seine wahre Identität stets verschleierte.

Marie Wang: „Shitao beantwortete die Fragen des Kaisers zum Zustand des Klosters und soll dabei sehr aufgeregt gewesen sein. Der kunstbeflissene Kaiser beeindruckte ihn.“

Zum ersten Mal fühlte sich Shitao von den Möglichkeiten der Hauptstadt angezogen. Konnte er es wagen, ein ähnliches Amt in einem Beijinger Kloster anzunehmen oder sich als Maler um kaiserliche Unterstützung zu bemühen, wie es andere Maler taten?

Verrat an seiner Herkunft als Prinz der Ming-Dynastie?

In der chinesischen Kunst gibt es die sogenannten „drei Herausragenden“, san jue, nämlich die Kalligraphie, die Malerei und die Poesie. Viele Maler haben die san jue vereint, indem sie ihre Gemälde mit poetischen Kalligraphien versahen, mit sogenannten Aufschriften. Derartige Kommentare nahmen nicht unbedingt Bezug auf die dargestellte Malerei, sondern gaben etwa die Stimmung und die Gedanken wieder, die den Künstler zu diesem Werk inspiriert hatten oder sie enthielten Angaben zu Ort und Datum. So hielt es auch Shitao und machte davon regen Gebrauch.

Fächer mit Malerei und Aufschrift, 1699 © Metropolitan Museum of Art

Nur deshalb lässt sich vieles von seinem Lebensweg nachvollziehen, denn in seinen oft langen Aufschriften gab er zahlreiche Hinweise, wann er sich wo befunden, wen er getroffen oder was ihn berührt hat. Häufig deutete er auch die Traumata seines Lebens an, den Verlust seiner Eltern, den Untergang des Ming-Herrscherhauses, dem er angehörte, das Leben in der Anonymität. In solchen Klagen kam auch die Widersprüchlichkeit in seinem Denken zum Ausdruck. So fragte er sich beispielsweise, ob es nicht Verrat an seiner Herkunft wäre, wenn er sich mit den neuen Herren einließe.

Kangxi kam nach Nanjing, um das Grab des ersten Kaisers der Ming-Dynastie, Zhu Yuanzhang, zu besuchen und diesen damit zu ehren. Auch diese Geste gegenüber einem seiner Vorfahren mag Shitao für den Qing-Kaiser eingenommen haben. 1689 traf er den Kaiser ein zweites Mal, wahrscheinlich in Yangzhou. Danach entschied er sich, in die Hauptstadt zu gehen.

Shitao, der Individualist – der Vater der modernen chinesischen Malerei

Doch blieb er dort nur drei Jahre, denn obwohl er in Beijing einflussreiche Förderer fand, wurde er von entscheidender Seite wohl eher als malender Mönch und nicht als herausragender Künstler wahrgenommen.

Marie Wang: „In Beijing wurde sein Malstil nicht anerkannt. Er war zu individualistisch und entsprach nicht den strengen Regeln der Literatenmalerei.“

Es mag an den traumatischen Erlebnissen während des Dynastiewechsels gelegen haben, an seinem widersprüchlichen Geist, den zermürbenden Zweifeln und Fragen, wer er denn nun wirklich war: Zhu Ruoji, Shitao, Daoji, Mönch Bittermelone? Shitao unterwarf sich keiner Orthodoxie, stellte die geltenden Regeln in Frage, wollte seinen eigenen Weg gehen. Später wurde er gerade aus diesem Grunde zum Vorbild aller unangepassten und individualistischen Maler. Einige nennen ihn sogar den Vater der modernen chinesischen Malerei.

 

Zehntausend hässliche Tintenpunkte, 1685 © Wikimedia Commons

Eine Eigenheit der klassischen chinesischen Malerei war die Orientierung an alten Vorbildern, deren Stil jahrelang studiert und nachgeahmt werden musste. Erst wenn man das Können der alten Meister beherrschte, konnte man – dann meist schon im hohen Alter – einen eigenen Stil entwickeln. Auch gab es unterschiedliche Schulen, das heißt bestimmte Stilrichtungen der Maler im Norden und im Süden. Die Werke einzelner Maler wurden dann entsprechend der Nördlichen oder der Südlichen Schule zugerechnet. Strenge Regeln bestimmten die Komposition eines Bildes, die es einzuhalten galt. An dieser Einstellung hielt man in den entscheidenden Kunstkreisen der Hauptstadt vehement fest und dies vor allem zu Beginn der Qing-Dynastie. Für Freigeister wie Shitao gab es in Beijing keinen Platz, denn er widersetzte sich der in seinen Augen erstarrten Orthodoxie. Er lehnte Regeln ab: „Keine Regel ist die Regel, dies ist die höchste Regel.“ Für ihn führte die Nachahmung der alten Meister in eine Sackgasse, die keinen Raum ließ für die Entwicklung von Originalität. „Fragt man mich, ob ich im Stile der Südlichen oder der Nördlichen Schule male, halte ich mir den Bauch vor Lachen. Ich weiß nicht, ob ich zu einer Schule gehöre oder die Schule zu mir. Ich male in meinem eigenen Stil.“

Shitaos Hinwendung zum Daoismus

Enttäuscht in jeder Beziehung kehrte Shitao 1692 in den Süden zurück. Es war nicht nur die strenge Methodengläubigkeit des Nordens, die ihm missfiel. Auch war er in den hierarchischen Strukturen der buddhistischen Klöster auf Widerstand gestoßen, denn dort wurde inzwischen Politik gemacht und schien sich Korruption auszubreiten. So verließ Shitao den Norden und damit nicht genug. Er gab auch seinen buddhistischen Mönchsstand auf, um sich von den Regeln des klösterlichen Lebens zu befreien.

Heimkehr, 1695 © Metropolitan Museum of Art

Jahre der Rastlosigkeit und Wanderschaft folgten, bis er 1697 in der wohlhabenden Handelsstadt Yangzhou seinen neuen Lebensmittelpunkt fand. Am berühmten Kaiserkanal gelegen und durch den Salzhandel reich geworden war Yangzhou ein Zentrum für Kultur und Kunstverstand, in dem bedeutende Künstler gewirkt hatten. Hier verbrachte Shitao die letzten Jahre seines Lebens und hier entstand um 1700 sein berühmter Text „Aufzeichnungen zur Malerei“, Huayulu, der noch heute als ein literarisches Meisterwerk gilt. Shitao führt darin aus, worin das Geheimnis des künstlerischen Schaffens besteht.

Wie in der Kalligraphie wird auch in der chinesischen Malerei ein Werk in einem Zug ausgeführt. Eine Korrektur ist kaum möglich, wenn die Hand den Pinsel führt und die schwarze Tusche sofort in das empfindliche Papier eindringt. Ein guter Maler gibt nicht den äußeren Schein einer Realität wieder, sondern die Eindrücke, die diese bei ihm auslöst. Bevor er zu Pinsel und Tusche greift, muss er das Wesen dessen erfassen, was er darstellen möchte, muss also das unsichtbare innere Prinzip erkennen. Shitao dürstete nach Reinheit und Klarheit und formulierte in diesen Aufzeichnungen das Dao der Malerei: Am Anfang steht „der Eine Pinselstrich“, der Ursprung allen Daseins, Wurzel der zehntausend Erscheinungen ist. Mit diesen und ähnlichen Worten offenbarte er seine Hinwendung zum Daoismus, der alten chinesischen Philosophie, die in seinen letzten Lebensjahren sein Denken prägte. Somit sind die drei großen Traditionen der Geistesgeschichte Chinas in diesem einen ungewöhnlichen Menschen vereint: Shitao erfuhr eine konfuzianische Prägung durch sein Elternhaus, durchlief ein fundiertes buddhistisches Studium in der Mönchsgemeinschaft und knüpfte im Alter an die alten Prinzipien daoistischen Denkens an.

Shitao starb im Jahre 1707. Seinem Wirken und Einfluss folgten weitere individualistische Maler, die sich allen Regeln widersetzten und deshalb die „Acht Exzentriker von Yangzhou“ genannt werden. Und auch diese hatten wieder Anhänger und Schüler, die die Gedanken des Shitao aufgriffen und nach ihrem eigenen Weg suchten. So lebt Zhu Ruoji, Shitao, Daoji, Mönch Bittermelone in den Herzen der Menschen fort, der Prinz, der nur knapp dem Tod entrann, ein Mönch und Maler wurde und dessen Gedanken unsterblich sind.

Neben Landschaften liebte es Shitao, Blumen zu malen, Orchideen, Lotos, Hibiskus und Pflaumenblüten © Wikimedia Commons

 

 

1 Kommentar
  1. Sehr gehaltreicher wie spannender Beitrag, den ich in einem Zuge zu Ende lesen musste. Ich hätte sonst gedacht, traditionelle chinesische Tuschmalerei auf deutsch zu erklären, wäre „Mission impossible“. Nun muss ich mich aber nun eines Besseren belehren lassen????, aber mit Vergnügen. Vielen Dank liebe Petra????

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