Marco Polo: Ein Kriegsgefangener beschreibt die Welt

Marco Polos Werk „Beschreibung der Welt“ gehört zum Kanon der Weltliteratur. Was viele nicht wissen: es entstand in Gefangenschaft.

Der berühmte Kaufmannssohn aus Venedig, der 24 Jahre lang durch Asien gereist war, stürzte sich schon drei Jahre nach seiner Rückkehr in ein neues Abenteuer: Er zog im Jahre 1298 für seine Heimatstadt in den Krieg gegen das rivalisierende Genua. Doch die Flotte der stolzen Seerepublik unterlag. Etwa 7000 Venezianer fanden den Tod und mindestens die gleiche Anzahl geriet in Gefangenschaft, unter ihnen Marco Polo. Die Haftbedingungen für den berühmten Asien-Reisenden schienen jedoch passabel gewesen zu sein. Es heißt, man habe den Palazzo San Giorgio zum Gefängnis umgebaut und ihn dort eingesperrt. Ob nun Zufall oder Berechnung: Sein Mitgefangener war der erfahrene Romanschriftsteller Rustichello von Pisa, der ihn nach seinen Erlebnissen ausfragte und alles aufschrieb. Eine Sternstunde der Weltliteratur nahm ihren Lauf!

In den folgenden Monaten der Gefangenschaft entstand das Werk „Beschreibung der Welt”, um das sich seit seiner Veröffentlichung unterschiedliche Vermutungen und Zweifel ranken. Manche Leser nannten Marco Polo „Il Milione“, weil sie maßlose Übertreibungen in seinen Schilderungen vermuteten. Christoph Kolumbus schien das Werk zu schätzen. Er nahm eine Abschrift mit auf seine Suche nach dem westlichen Seeweg nach Indien und versah sie mit vielen Kommentaren. Alexander von Humboldt nannte Marco Polo den größten Reisenden aller Zeiten. Eine britische Wissenschaftlerin unterstellte ihm Betrug. Er sei gar nicht bis nach China gelangt, sondern habe sich bei persischen und arabischen Kaufleuten umgehört und die Informationen zu einem Buch zusammengeschustert.

Der Sinologe und Publizist Dr. Hans-Wilm Schütte hat zu dem gesamten Themenkomplex ein überaus lesenswertes Buch geschrieben. Wer war Marco Polo und was hat er erlebt? Das folgende Interview gibt Aufschluss.

Ein paar Worte zum historischen Hintergrund

Für Europa wie aus dem Nichts stürmten in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts fremdartige Reiterheere aus dem Osten heran und machten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Im Sattel ihrer schnellen Pferde äußerst mobil, schossen sie mit Pfeil und Bogen ein paar Hundert Meter weit und verfügten damit über Distanzwaffen, die einen Nahkampf erübrigten. Die schwerfälligen Ritterheere des Abendlandes hatten dieser Kriegführung nichts entgegenzusetzen. Die Christenheit fühlte sich dem Untergang nahe. Ex tartaro, die „aus der Hölle“ kommen, nannte man diese Reiterscharen, und daher kurz: Tartaren. Es waren aber Mongolen. Die durchaus existierenden Tataren hatten sie längst unterworfen.

Im Jahre 1206 war ein Mann namens Temüdschin von den mongolischen Stammes- und Clanführern zu ihrem obersten Herrscher erhoben worden. Er nannte sich fortan Dschingis-Khan, Ozeangleicher Herr.

Dschingis-Khan, Ozeangleicher Herr

Unter seiner Führung eroberten die Mongolen in nur wenigen Jahrzehnten weite Teile des eurasischen Kontinents. Ein Großreich entstand, das vom Pazifik bis an die Wolga und vom Indischen Ozean bis nach Sibirien reichte. Ihre westlichen Eroberungszüge führten bis nach Schlesien, wo bei Liegnitz im Jahre 1241 eine letzte blutige Schlacht geschlagen wurde. Dann zogen sie sich unversehens zurück. Grund dafür waren Nachfolgeprobleme. Dschingis-Khan war längst tot, ebenso sein Sohn und Nachfolger. Ein neuer Anführer musste gewählt werden. Weitere erfolgreiche Eroberungszüge richteten sich nun vor allem gegen China, wo Dschingis-Khans Enkel, Kublai-Khan, im Jahre 1271 die mongolische Yuan-Dynastie gründete.

Handelsrouten zwischen Ost und West

Schon seit vorchristlicher Zeit gab es zwischen Europa und Asien ein weitreichendes Wegenetz, auf dem Erkenntnisse, Nachrichten, Religionen und kostbare Güter ausgetauscht wurden. Schon die Römer schätzten die luxuriösen Gewänder aus chinesischer Seide. Nach diesem kostbaren Gewebe prägte viele Jahrhunderte später der deutsche Geograph und Forschungsreisende Ferdinand von Richthofen (1833-1905) den Begriff, unter dem die interkontinentale Ost-West-Verbindung berühmt wurde: die Seidenstraße.

Auf den Spuren der alten Seidenstraße © Anke Liu

Nur selten zogen die Händler bis ans ferne Ende der Handelswege. Vielmehr bildeten sich entlang der Routen Knotenpunkte und Umschlagplätze, an denen die Waren gehandelt und weitergeleitet wurden, u.a. auch auf abzweigenden Wegen Richtung Süden und Norden. Wer genug Gewinn gemacht und ausreichend exotische Waren für den Heimatmarkt erworben hatte, begab sich auf den Rückweg. Ein ähnliches Vorgehen planten auch die Brüder Niccolò und Maffeo Polo, als sie 1260 an den Unterlauf der Wolga zogen, in den westlichen Teil des Mongolenreiches. Nachdem die Geschäfte zufriedenstellend zum Abschluss gekommen waren, wollten sie in ihre Heimat zurückkehren, doch blockierten innermongolische Kämpfe ihren Rückweg und zwangen sie zu langen Pausen und Umwegen. Indem sie immer weiter Richtung Osten zogen, gelangten sie schließlich an den Hof des damals mächtigsten Mannes Asiens, Kublai-Khan, der in Shangdu, Xanadu, in der heutigen Inneren Mongolei, residierte. Insgesamt neun Jahre waren die Polos unterwegs bis sie nach Venedig zurückkehrten. Doch schon zwei Jahre später machten sie sich erneut auf den Weg in den Fernen Osten, denn es galt ein Versprechen einzulösen, das sie Kublai-Khan gegeben hatten. Und diesmal nahmen sie den damals siebzehnjährigen Marco mit, den Sohn von Niccolò und Neffen von Maffeo Polo.

Die drei Polos auf dem Weg nach Osten

Petra (P): Die Mongolenstürme in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts führten zu einem beachtlichen Aufschwung des Handels zwischen Europa und Asien entlang der alten Handelswege. Wie kam es dazu?

Dr. Hans-Wilm Schütte (HWS): Durch die mongolischen Eroberungen in Asien und Teilen Osteuropas wurde ein Weltreich geschaffen, in dem die Pax Mongolica, der mongolische Friede galt. Relativ gefahrlos konnte man vom Pazifik bis nahe an die östliche Küste des Mittelmeeres gelangen. Früher hatten die einzelnen Landstriche unterschiedlichen Herrschern unterstanden, von denen mal der eine, mal der andere Krieg führte, so dass die Handelsrouten immer wieder unterbrochen waren. Die neue Situation, die relative Sicherheit auf den Handelswegen, wussten die Fernkaufleute schnell zu nutzen.

P: Fernkaufleute wie die Polos reisten in den Osten, um mit den Mongolen Geschäfte zu machen. Widersprach das nicht dem Schrecken, den die Mongolenstürme ausgelöst hatten?

HWS: Natürlich versuchten die Kaufleute, sich von den kriegerischen Auseinandersetzungen fernzuhalten. Deshalb dauerten die Reisen auch so lange, weil oft abgewartet werden musste, bis sich die Lage beruhigt hatte. Insgesamt gesehen fanden fremde Kaufleute bei den Mongolen jedoch freundliche und großzügige Aufnahme, weil diese erkannt hatten, dass durch Handel Wohlstand für sie geschaffen wurde.

P: Womit wurde hauptsächlich gehandelt?

HWS: Besonders China lockte mit Luxuswaren wie Seide, Brokat und Edelsteinen, mit Heilpflanzen wie Kampfer und Rhabarber, Gewürzen wie Zimt und auch mit Porzellan. Tee spielte damals noch keine Rolle. In Richtung China handelte man u.a. mit Woll- und Leinenstoffen, Metallen, Bernstein, Elfenbein und Kristallwaren. Mit Glaswaren ließen sich besonders hohe Handelsspannen erzielen, weil China damals noch kein Glas produzierte.

P: Was ist über die Familie Polo bekannt?

HWS: Die Familie Polo zählte nicht zu den führenden, wohl aber zu den wohlhabenden Kaufmannsfamilien Venedigs mit Niederlassungen im östlichen Mittelmeer und am Schwarzen Meer. Wahrscheinlich handelte sie mit unterschiedlichen Waren wie Edelsteinen, Gewürzen, Salz, Hölzern und Stoffen, konzentrierte sich aber auf den Orienthandel. Sie war eine für Venedig normale Kaufmannsfamilie, die ohne Marco Polos „Beschreibung der Welt“ längst in Vergessenheit geraten wäre.

P: Für Marco Polo war es die erste Reise nach China, für Vater Niccolò und Onkel Maffeo bereits die zweite. Was gab den Anlass zu dieser zweiten Reise? Was hatte es mit dem oben erwähnten Versprechen auf sich?

HWS: Über den Anlass berichtet Marco gleich zu Beginn seines Buches. Vater Niccolò und Onkel Maffeo Polo waren durch glückliche Umstände an den Hof des Kublai-Khan gelangt.

Kublai-Khan

Für den Großkhan war es das erste Mal, dass er auf venezianische Kaufleute traf, und da die Polos die mongolische Sprache beherrschten, konnten sie auf seine interessierten Fragen ausführlich Auskunft geben, etwa zur abendländischen Kultur und dem christlichen Glauben. Kublai-Khan schickte sie schließlich als seine Gesandten mit einem Schreiben an den Papst zurück. Darin bat er um den Besuch von 100 Gelehrten, die mit der christlichen Religion und den sieben freien Künsten (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie) vertraut wären. Im Disput mit ihnen sollte herausgefunden werden, ob die Mongolen wirklich einem falschen Glauben anhingen und der christliche der einzig wahre wäre. Auch sollten die Polos ins Heilige Land reisen, um für den Großkhan Öl von der Lampe am Heiligen Grab abzuzweigen.

Als sie nach zwei Jahren erneut in den Fernen Osten aufbrachen, begleitete sie Marco, der Sohn und Neffe. Die versprochenen 100 Gelehrten folgten ihnen allerdings nicht, stattdessen nur zwei Predigermönche, die alsbald umkehrten, weil sie sich den Strapazen und Gefahren der Reise nicht gewachsen fühlten. Der Großkhan freute sich trotzdem über die Rückkehr der Polos.

P: Als Marco Polo 1271 mit Vater und Onkel aufbrach, wird er kaum geglaubt haben, dass er erst 24 Jahre später in seine Heimatstadt zurückkehren würde.

HWS: Wer sich im Mittelalter auf den Weg quer durch Zentral- und Ostasien begab, plante nicht in Wochen und Monaten sondern in Jahren. Zu weit waren die Entfernungen, zu groß die Strapazen und Widrigkeiten einer solchen Unternehmung. Die erste Reise der Brüder Polo hatte immerhin schon mehr als neun Jahre gedauert. Man war auf lange Zeiträume eingestellt.

P: Auf flachem Terrain legte man 40 bis 50 Kilometer pro Tag zurück. Wie ist man gereist?

HWS: Mit Reit- und Lasttieren, die man mietete, teilweise gleich zusammen mit den entsprechenden Treibern. Man bildete meist Karawanen, nicht unbedingt große, wenn das Terrain relativ sicher war. Zog man jedoch durch unwirtliche Natur oder fürchtete Raubüberfälle, schloss man sich zu größeren Gruppen zusammen, um sich gegenseitig zu schützen und zu verteidigen.

Heute ziehen Touristenkarawanen durch die Wüste © Petra Häring-Kuan

P: Entlang der Haupthandelsrouten entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte eine gute Infrastruktur.

HWS: In den Karawansereien wurde für alles gesorgt. Es gab Herbergen. Reit- und Lasttiere konnten gemietet, Proviant, Wasser und vieles mehr gekauft werden.

Die Kaufleute ließen sich damals Zeit. Sie reisten zum nächstgelegenen Umschlagplatz und blieben dort erst einmal, um Informationen zu sammeln: Fanden die Waren, die man mitführte, Interesse? Stimmte der Preis, den man erzielen konnte? Was berichteten entgegenkommende Reisende von ihren Erfahrungen? Was hatten sie erlebt und was war weiter voraus an Waren gefragt? Sollte man noch etwas hinzukaufen, um es dort zu verkaufen? Lohnte sich die Weiterreise?

Man reiste nicht unbedingt auf direkter Strecke weiter, sondern wählte bei Gefahr lieber Umwege. Das war auch bei Marco Polos Hinreise so gewesen. Sie wollten eigentlich auf dem Seeweg reisen, fanden dann aber die Schiffe am Persischen Golf überhaupt nicht Vertrauen erweckend und wählten daher lieber die schwierige Landroute durch Steppen, Wüsten und Gebirge, deren Gefahren sie besser einschätzen konnten. Auf der Rückreise nahmen sie dann tatsächlich den Seeweg bis Hormus.

P: Wie haben wir uns Marco Polo eigentlich vorzustellen? In seinem Buch fehlen Angaben zu seiner eigenen Person.

HWS: Zu Beginn der Reise war er siebzehn Jahre alt, also in einem Alter, in dem junge Menschen sehr aufnahmefähig sind und viel im Gedächtnis behalten können. Er muss ein geistig sehr offener Mensch gewesen sein und vielseitig interessiert. Es ist faszinierend zu lesen, wie genau er beobachtete und sich bemühte, die Dinge, die er sah, zu verstehen. Damit gab er seinem Bericht eine persönliche Note. Er begeisterte sich für Bauwerke, Brücken, Paläste und Gärten.

Die Marco-Polo-Brücke, Lugou Qiao, bei Peking wurde von Polo detailgenau beschrieben unter Angabe der Maße, wie sie heute noch stimmen. Nur die Zahl der Bögen hatte er falsch in Erinnerung © Dr. Hans-Wilm Schütte

HWS: Auch war er interessiert daran zu sehen, wie Frauen und Männer miteinander umgingen und bemerkte, dass, was in Venedig als unmoralisch galt, woanders völlig natürlich war. Auffällig ist auch sein Interesse an fremden Religionen, was sehr ungewöhnlich für jemanden aus dem christlichen Abendland war. Er aber zeigte sich aufgeschlossen gegenüber dem Buddhismus und den religiösen Riten in Indien.

P: 1271 sind die Polos nach China aufgebrochen und 1295 zurückgekehrt. Wenn man die Jahre der Hin- und Rückreise abzieht, waren sie insgesamt etwa 16 bis 17 Jahre in China.  Was haben sie dort gemacht?

HWS: Die Brüder Polo waren Kaufleute und ich nehme an, dass sie ihrem Beruf weiter nachgingen. Von dem jungen Marco wissen wir, dass er als Gesandter des Großkhan weite Reisen durchs Land und auch ins Ausland unternahm. Er war kein offizieller Gesandter mit Amt und Würden, sonst wäre er in den Annalen des chinesischen Reiches erwähnt worden. Doch scheint der Khan Marcos Fähigkeiten geschätzt haben, als Ausländer unvoreingenommen seine Beobachtungen zu machen. So wurde er ein unabhängiger Zuträger, der ihm sagte, was außerhalb der Beamtenhierarchie in den verschiedenen Gegenden los war.

Ein Erlass des Mongolenkaisers in Phagspa-Schrift. Diese damals übliche Form eines amtlichen Dokuments muss auch Marco Polos kaiserlicher Pass anlässlich seiner Reisen gehabt haben © Provinzmuseum der Inneren Mongolei

P: Die „Beschreibung der Welt“ ist – wie oben bereits erwähnt – in Gefangenschaft entstanden. Zu Beginn deines Buches heißt es, dass dieses eher nebensächliche Detail den eigentlichen Schlüssel zum Verständnis von Marco Polos Werk bilde.

HWS: Marco Polo hat das Buch nicht selbst geschrieben, sondern bestenfalls nur einzelne Teile daraus. Es ist völlig unklar, was er an eigenen Aufzeichnungen besaß. Das Interessante ist, dass wir von Marco Polo – und übrigens auch von seinem Vater und Onkel – kaum etwas wüssten, wenn er nicht auf den Mitgefangenen und Romanschriftsteller Rustichello von Pisa getroffen wäre.

P: Rustichello schrieb also nieder, was Marco Polo ihm erzählte? Es heißt, Rustichello habe sich am Stil seiner Ritterromane orientiert. Außerdem habe er als erfahrener Schriftsteller die mündlichen Erzählungen Polos überhaupt erst in eine literarische Form gebracht, die dem Geschmack der damaligen Leser entsprach.

HWS: Die offensichtlich doppelte Autorenschaft macht das Ganze einerseits sehr spannend, andererseits sehr kompliziert. Über Marco Polo ist häufig in der dritten Person die Rede, aber manchmal auch in der ersten. Zur Entstehungsgeschichte seines Werkes ist im Detail wenig bekannt. Einen überlieferten Urtext gibt es nicht, stattdessen nur verschiedene Abschriften. Ursprünglich war der Text wohl in franko-italienischer Sprache verfasst und dann in toskanische und venezianische Dialekte und ins Französische und Lateinische übersetzt worden.

Beim Abschreiben und Übersetzen kam es natürlich zu Fehlern. Auch fügte mancher Kopist und Übersetzer Ergänzungen hinzu, wenn er noch etwas zu wissen glaubte oder meinte, kommentieren oder korrigieren zu müssen. Das ist besonders interessant bei der lateinischen Fassung, die von einem Kirchenmann erstellt wurde. Dieser nahm Anstoß an der – seiner Auffassung nach – laxen Moral. Marco Polo hatte Heiratssitten beschrieben, die so nicht stehen bleiben durften. Also wurde hinzugefügt, wie gottlos die Menschen seien. Da Latein die Sprache der Gelehrten war, hat sich diese kommentierte Fassung in Europa weit verbreitet. In anderen Fassungen gibt es diese Kommentare nicht.

P: Ich habe eine entsprechende Textstelle herausgesucht, die in der lateinischen Fassung wahrscheinlich kommentiert wurde. So heißt es über tibetische Stämme:

„Eine schändliche Gewohnheit herrscht in dem Volk dieses Gebietes: Diese Leute wollen keine unberührten Mädchen heiraten, sondern verlangen, daß diese vorher Umgang mit dem anderen Geschlecht gehabt haben sollen: das, so versichern sie, sei ihren Göttern wohlgefällig. Deshalb kommen die Mütter mit ihren heiratsfähigen Töchtern, sobald eine Karawane in der Nähe eingetroffen ist und ihre Zelte aufgeschlagen hat; sie drängen sich um die Zelte und bitten die Fremden, ihre Töchter zu nehmen und sich ihrer Gesellschaft zu erfreuen… Es wird jedoch erwartet, dass die Kaufleute ihnen zum Zeichen der Dankbarkeit Schmuck oder anderes schenken. Wenn die Mädchen später heiraten wollen, tragen sie diesen Schmuck, und diejenige, die am meisten davon besitzt, gilt als die Begehrenswerteste.“ *)

P: Bis Ende des 15. Jahrhunderts wurde das Werk in fast alle Sprachen Europas übersetzt. Ein Bestseller – würde man heute sagen.

HWS: Marco beschrieb, was ein breites Publikum interessierte: die Sitten und Gebräuche der Menschen im Osten, ihr Alltagsleben, wie ihre Städte aussahen und ähnliches. Er hatte das Buch für keine bestimmte Zielgruppe geschrieben wie etwa für Kaufleute, die im Wesentlichen nur Hinweise zu Reiserouten, Waren und Preisen suchten. Deshalb gestaltete sich das Interesse an seinem Buch als so riesig, weil ein jeder in den Schilderungen etwas Interessantes finden konnte. So erzählt er beispielsweise vom perfekt organisierten Staats- und Kurierwesen und ist beeindruckt von der Daseinsvorsorge, den staatlichen Getreidespeichern, was allerdings keine mongolische Erfindung, sondern alte chinesische Tradition war: die Vorratshaltung für drei Jahre. Er liefert geographische Angaben zu Städten und Regionen, Flüssen, Gebirgen und Ländern. Er berichtet sehr ausführlich vom Leben am Hof des Kublai-Khan, von Zeremonien, Festen und Gelagen, den Frauen und vielen Konkubinen des Khan und natürlich von dessen sagenhaften Schätzen. Aber er beschreibt auch das Alltagsleben der Mongolen.

„Die Frauen kümmern sich um den Handel, kaufen, verkaufen und sorgen für alle Lebensbedürfnisse ihrer Eheherren und Familien; denn die Männer beschäftigen sich nur mit Jagd, Falkenbeize und dem Waffenhandwerk.“… „Die Tugenden der Bescheidenheit und Keuschheit bei den Frauen sind um so preiswürdiger, als es den Männern gestattet ist, so viele Frauen zu nehmen, wie sie wollen. Der Aufwand, den der Mann für sie hat, ist nicht groß, und auf der anderen Seite ist der Nutzen beträchtlich, den er aus ihrem Handel und aus ihren sonstigen Arbeiten gewinnt… Auf Grund der vielen Frauen, die sie haben, ist die Nachkommenschaft der Tataren größer als die irgendeines anderen Volkes.“ *)

P: Was wussten die Europäer in jener Zeit eigentlich von China? In deinem Buch zählst du auf, wie viele Menschen aus westlichen Ländern bereits vor Marco Polo in China gewesen waren. Wer waren diese Leute?

HWS: Schon die Römer kannten die kostbare Seide der Serer, der Seidenleute, wie sie sie nannten, die irgendwo im Fernen Osten lebten.

Zu den frühen Reisenden aus dem Westen gehörten Kaufleute, Abenteurer, Söldner oder auch Gefangene. Historisch bedeutend sind die Missionare, die schon vor Marco Polo als Gesandte des Papstes in den Osten reisten. Zum Beispiel Johannes von Plano Carpini, der sich von 1245 bis 1247 in Karakorum, der damaligen Hauptstadt des Mongolenreiches aufhielt sowie Wilhelm von Rubruk, von 1253 bis 1255 in Karakorum. Beide hinterließen ausführliche schriftliche Berichte, die jedoch nicht an die breite Öffentlichkeit gelangten.

P: Immer wieder hebt Marco Polo hervor, wie klug Kublai-Khan regierte. Und doch ist ihm durchaus bewusst, dass sich die Mongolen auf erobertem Gebiet befinden und von der lokalen Bevölkerung gehasst werden.

„Weiter muss man sich erinnern, dass der Großkhan, weil er die Herrschaft über Kataia (China) nicht durch legales Recht, sondern durch Waffengewalt erworben hatte, kein Vertrauen zu den Einwohnern besaß und deshalb alle Statthaltereien und alle Behörden der Provinzen Tataren, Sarazenen (Muslimen), Christen und anderen Fremden anvertraut hatte. Darum war seine Regierung allgemein bei den Eingeborenen verhasst, die sich von den Tataren als Sklaven, noch schlimmer aber von den Sarazenen behandelt sahen.“ *)

Er nennt dazu auch Zahlen: Da Kublai-Khan vor allem im Süden Aufstände fürchtete, wo die chinesische Bevölkerung besonders lange der mongolischen Eroberung widerstanden hatte, waren an allen wichtigen Punkten Truppen in bedeutender Stärke stationiert. In jeder Stadt mindestens tausend Mann, und allein in Quinsai (Hangzhou) dreißigtausend Mann.

Damit kommen wir auf Hangzhou zu sprechen, die heutige Hauptstadt der Provinz Zhejiang. Marco Polo nannte sie „Quinsai“, gelegen am Westsee, der gesäumt war von Palästen, Villen und Klöstern. Er beschrieb sie als prächtigste Stadt der Welt mit einer Einwohnerzahl von 1,6 Millionen.

HWS: Die Beschreibung von Hangzhou ist sehr ausführlich und ganz wunderbar. Er war überwältigt von der Urbanität dieser Stadt. Ähnlich wurde Hangzhou auch von anderen Reisenden beschrieben wie von Ibn Battuta (1304-1369). Sie alle waren erstaunt über den Reichtum, die Größe und den gepflegten Zustand Hangzhous.

„Quinsai, die ‚Stadt des Himmels‘. Diesen Namen verdient sie vor allen anderen Städten in der Welt wegen ihrer Größe und Schönheit ebenso wie wegen der Kurzweil, Freuden und Genüsse, die man dort findet, so dass ihre Bewohner glauben können, sie wohnten im Paradiese.“ *)

P: Tatsächlich sagen die Chinesen noch heute von dieser Stadt: „Im Himmel das Paradies, auf Erden Hangzhou.“ Marco Polo mag das damals schon gehört haben.

Über die Einwohner von Hangzhou schreibt er: „Die Mehrzahl unter ihnen pflegt sich in Seide zu kleiden, die in gewaltigen Mengen in der Stadt produziert wird. … Für jedes Gewerbe gibt es tausend Werkstätten, und jede Werkstatt beschäftigt zehn bis zwanzig Handwerker… Die reichen Meister arbeiten nicht selbst, sondern stolzieren nur mit vornehmen Mienen umher. Auch die Frauen enthalten sich der Arbeit. Sie sind sehr schön und werden in zärtlichen und schmachtenden Gewohnheiten aufgezogen. Die Üppigkeit ihrer Kleidung und ihres Schmuckes kann man sich kaum vorstellen.“ *)

P: Auch gab es schon Papiergeld. Marco Polo erzählt von den Wertstufen der Scheine und der Stempelung, die das Papier zu einem amtlichen Geldschein macht. Er betont, dass diese Scheine überall gern akzeptiert werden und als Zahlungsmittel im ganzen Großreich zirkulieren.

Geldschein aus dem Mongolischen Großreich © Provinzmuseum der Inneren Mongolei

HWS: Er beschreibt auch, wie das Papier hergestellt wurde, nämlich aus der Rinde der Maulbeerbäume.

Später führte der Druck beliebiger Geldscheinmengen allerdings zu einer Inflation und Geldentwertung, so dass Papiergeld wieder außer Gebrauch kam.

P: Kommen wir zur Abreise der Polos. Mich erstaunte, dass sie nicht die Freiheit hatten, beliebig abzureisen, sondern die Erlaubnis des Khan brauchten.

HWS: Das findet man aber in allen Ländern der damaligen Zeit. Das war im Prinzip nichts Besonderes. Man brauchte eine Ausreisegenehmigung, und diese verwehrte ihnen der Khan. Sie waren nun schon so lange dagewesen und der persönliche Kontakt besonders zu Marco muss dem Khan viel bedeutet haben.

P: Sie schaffen es dann aber doch, als Mitglieder einer kaiserlichen Brautdelegation über den Ozean nach Persien abzureisen.

Kublai Khan händigt den Polos eine “Goldene Tafel” aus, eine Art Reisepass, mit dem sie überall im Mongolenreich Hilfe und Unterstützung fordern können

Wie wurden sie nach so vielen Jahren in Venedig empfangen?

HWS: Darüber gibt es mehrere Legenden. Eine plausible lautet, dass ihre Angehörigen sie nicht erkannten, weil sie aussahen und gekleidet waren wie Tataren und ihre Sprache durchsetzt war mit fremden Ausdrücken. Man hatte die drei eigentlich für tot gehalten, nachdem entsprechende Gerüchte kursiert waren.

P: Was wurde aus Marco Polo? Er zog in den Krieg gegen Genua, geriet in Gefangenschaft und dann? Hat er geheiratet und hatte er Kinder?

HWS: Wir wissen, dass er um das Jahr 1312 die Tochter einer angesehenen venezianischen Familie heiratete und mit ihr drei Töchter hatte. Fortan soll er sich als Finanzier und Teilhaber von Geschäften betätigt haben, was damals eine gängige Art von wohlhabenden Kaufleuten war, die nicht mehr selbst auf Reisen gehen wollten.

P: Was wurde aus Rustichello von Pisa?

HWS: Über ihn sind nicht einmal die Lebensdaten bekannt. Nach der Fertigstellung von Marco Polos Reisebeschreibung verblasste sein Name im Laufe der Zeit und geriet in Vergessenheit.

P: Welche Bedeutung hat Marco Polo?

HWS: Damals war er natürlich von größter Bedeutung. Das sieht man schon daran, dass sein Buch innerhalb kürzester Zeit in viele Sprachen übersetzt wurde. Er gab breiten interessierten Kreisen die Möglichkeit, sich über Asien zu informieren. Die Frage ist, wie diese Informationen zunächst wahrgenommen wurden. Zum Teil wurde er als Angeber bezeichnet. Ich denke aber, dass es in Gegenden, in denen Fernhandel betrieben wurde, ein Bewusstsein dafür gab, dass es irgendwo im Fernen Osten ein solches Land geben musste. Denn irgendwoher mussten Kostbarkeiten wie Seide und Porzellan ja kommen. Echtes Porzellan aus China hatte Goldwert. Außerdem waren auch andere Leute dort gewesen, wie die päpstlichen Gesandten, und zudem gab es auch Beispiele von Reisenden aus der Gegenrichtung, also von Personen, die aus dem Fernen Osten nach Europa gelangt waren.

Christliche Kreuze und eine Halskette mit Kruzifix, alle aus der Mongolei und aus der Yuan-Dynastie stammend, bezeugen Besuch aus dem fernen Westen und wohl auch die prinzipielle Aufgeschlossenheit des Hofes für den Glauben © Provinzmuseum der Inneren Mongolei

Wirklich bewundernswert war vor allem Marcos Erinnerungsvermögen. Das war einfach phänomenal. Und auch sein Blick, Dinge wahrzunehmen und sie mitzuteilen. Ihm unterliefen natürlich kleine Fehler. Das sieht man an den Reiserouten, die er angibt und an den Ortsnamen, die er manchmal verwechselt, aber das ist lächerlich bei diesen chinesischen Ortsnamen, von denen viele ähnlich oder sogar gleich klingen. Dies aus der Rückschau genau anzugeben, kann man nicht verlangen, im Gegenteil, es ist ganz erstaunlich, an wie viele Details er sich erinnert.

P: Warum wurde in Zweifel gezogen, dass er überhaupt bis nach China gekommen ist?

HWS: Keiner derjenigen, die solche Zweifel äußerten, konnte plausibel angeben, woher er sein detailliertes Wissen sonst hätte haben sollen. Etwa von anderen Kaufleuten, die sich im Allgemeinen gar nicht für die Dinge interessierten, die Marco Polo beschrieben hat? Diese Offenheit gegenüber Sitten und Gebräuchen und dies auch noch in den verschiedensten Landesteilen – da ist es völlig ausgeschlossen, dass er dies alles durch mündliche Berichte hätte erfahren sollen. Außerdem behält das Gedächtnis wesentlich leichter Dinge, die man selbst erlebt hat und nicht nur erzählt bekommt. Natürlich gibt es Ausnahmen, wo man weiß, dass er über einige Orte und Regionen, die abseits seiner eigenen Route lagen, entsprechende Informationen von anderen Reisenden sammelte. Aber die persönlichen Beobachtungen sind alle authentisch.

In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, dass Chinareisen damals nicht etwas so Unerhört-Spektakuläres waren, wie manche heute glauben. Lateinische Grabsteine, die in China aus der Mongolenzeit erhalten geblieben sind, bezeugen, dass es europäische Chinareisende gab, von denen wir ansonsten gar nichts wissen. Kaufleute verfassten üblicherweise keine Reiseerinnerungen.

P: Die Argumente der Zweifler bezogen sich u.a. darauf, dass Marco Polo die Große Mauer und auch die gebundenen Füße der chinesischen Frauen nicht erwähnt hat.

HWS: Die Große Mauer entstand in der Form, wie wir sie kennen, erst Jahrhunderte später.

Das einzige, das Marco Polo vom Mauerbau früherer Jahrhunderte gesehen haben dürfte, zeigt dieses Bild. Der Mauerrest aus der Han-Zeit war zu Polos Zeit bereits über 1300 Jahre alt und dürfte nicht viel auffälliger gewesen sein als heute – eine von Sandstürmen abgeschliffene, unscheinbare Ruine © Dr. Hans-Wilm Schütte

HWS: Was andere Argumente angeht, wonach Marco Polo von auffälligen Beobachtungen, die man erwarten sollte, nichts berichtet (Tee, gebundene Füße, Drucktechnik) und dass dies beweise, dass er nicht dort war, so ist Zweierlei festzuhalten:
Wenn es so Auffälliges gewesen wäre, dass jeder es hätte bemerken müssen, dann hätte auch ein Marco Polo, der sich nur auf Berichte anderer gestützt hätte, davon erfahren müssen. Aber tatsächlich können wir kaum mit Sicherheit angeben, was damals als bemerkens- und berichtenswert empfunden wurde. „Man sieht, was man weiß“, lautet eine bekannte Reiseleiterweisheit. Dass Marco Polo beispielsweise eingebundene Füße gesehen hat, ergibt sich daraus, dass er den trippelnden Gang vornehmer junger Frauen bemerkte. Das Einbinden selbst war ein höchst intimer Akt, und die Größe eines Fußes lässt sich nicht beurteilen, wenn aus den langen Hosen, die Frauen in China trugen, nur die Schuhspitze herausschaut. Marco Polo sah offenbar keinen Grund nachzufragen, und so blieb ihm die tiefere Einsicht verborgen. So war es auch bei anderen Reiseberichten aus der Mongolenzeit.

Tatsache ist: Keiner berichtete so detailliert wie eben Marco Polo.

P: Hans-Wilm, vielen Dank für das Gespräch!

 

*) Alle Zitate in diesem Artikel stammen aus: Th. A. Kunst (Hrsg.), Marco Polo, Von Venedig nach China, Tübingen und Basel 1976

 

Hans-Wilm Schütte: Marco Polo – Reisen in das Reich der Mitte, Frederking & Thaler, München 2012

 

 

 

 

 

 

2 Kommentare
  1. Ich als Langsamleserin brauchte 35 Minuten, um deinen ausführlichen Bericht mit Interview zu lesen, aber es war jede Minute informativ und auch spannend. Natürlich hatte ich von Marco Polo und seinen Reisen gehört, aber nichts gelesen. Du hast es geschafft, mein kleines Wissen zu erweitern. Danke für den Artikel und die Bilder. Es grüßt Renate

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie hier mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden.

Ihnen könnten folgende Beiträge auch gefallen