Charlotte Salomon – Leben? oder Theater?

Villefranche-sur-Mer, Südfrankreich, 1940:

Als der psychische Druck unerträglich wird, die junge Malerin über das Erlebte aber nicht zu sprechen vermag, rät ihr der behandelnde Arzt, ihr bisheriges Leben in Bildern darzustellen.

Eigentlich will sie nur ein Beruhigungsmittel von ihm haben, irgendein Medikament, das sie davor bewahrt, verrückt zu werden. Denn das Grauen der Gegenwart und die düsteren Erinnerungen an die Vergangenheit machen ihr das Leben unerträglich. Sie spürt, dass der Arzt recht hat. Um durchhalten zu können, muss sie sich mit dem Erlebten auseinandersetzen.

Charlotte Salomon kehrt in ihren Unterschlupf zurück, deckt sich mit den notwendigen Utensilien ein und beginnt wie im Rausch zu malen. Dabei entstehen 1325 szenische Darstellungen ihres Lebens, mit Gouache-Farben auf Zeichenpapier aufgetragen und ergänzt mit erklärenden Texten auf Transparentblättern sowie Hinweisen zu Musikstücken, die ihr zu den einzelnen Lebenssituationen in den Sinn kommen. Unter den vielen Zeichnungen wählt sie 769 aus und fügt sie zu einem Werk zusammen mit dem Titel „Leben? oder Theater?“.

Als die Deutschen den Süden Frankreichs besetzen, übergibt sie die Zeichnungen dem Arzt zur Aufbewahrung mit den Worten: „Passen Sie gut darauf auf. Dies ist mein ganzes Leben.“ Der Arzt versteckt das einzigartige Werk vor dem Zugriff der Gestapo und bewahrt diese außergewöhnliche Künstlerin vor dem Vergessen.

Charlotte Salomon wurde 1943 im Alter von 27 Jahren in Auschwitz ermordet.

Ich hatte kürzlich Gelegenheit, mir Auszüge ihres Werkes im Lenbachhaus in München anzusehen.

Berlin-Charlottenburg, Wielandstraße 15

Die Wielandstraße liegt in einer noblen Wohngegend. Sie führt vom Kurfürstendamm in Richtung Norden.

Wielandstraße © Petra Häring-Kuan

Die Salomons lebten bis zu ihrer Flucht aus Deutschland im Jahre 1939 in dem Mehrfamilienhaus Nummer 15, nur wenige Schritte vom Kurfürstendamm entfernt. Mehrere Stolpersteine erinnern an frühere Bewohner des Hauses.

Stolpersteine © Petra Häring-Kuan

Albert Salomon und Paula Salomon-Lindberg überlebten die Zeit der Judenverfolgung. Ihre Tochter Charlotte nicht. An sie erinnert zusätzlich eine Gedenktafel an der Fassade des Hauses.

© Petra Häring-Kuan

Wer war Charlotte Salomon?

Dank ihrer autobiographischen Zeichnungen und vielen erklärenden Texte lässt sich ihr Leben wie in einem Film nachverfolgen.

1917 kommt sie in Berlin zur Welt. Der Vater, Albert Salomon, ist ein angesehener Chirurg und seit 1921 als Privatdozent an der Berliner Universitätsklinik Charité tätig. Er macht sich in der Krebsforschung einen Namen und gilt als ein Pionier der Mammographie. Seine Frau, Franziska Grunwald, ist die Tochter eines wohlhabenden Berliner Sanitätsrates.

Charlotte wird nach der Schwester der Mutter benannt, die bereits 1913 im Alter von 18 Jahren verstorben ist.

Die Familie Salomon wohnte im zweiten Stock © Petra Häring-Kuan

Die Salomons leben ein assimiliertes Judentum und feiern christliche wie jüdische Festtage. Charlotte beschreibt ein typisches Weihnachtsfest: „Die Mutter saß am Flügel und sang Stille Nacht, Heilige Nacht oder Am Weihnachtsbaum die Lichter brennen, und Vater und Großeltern sangen auch, ebenso wie Charlotte …, die neben dem herrlich von Franziska geschmückten Baum standen.“

Weihnachten bei den Salomons, aus “Leben? oder Theater?”

Charlotte ist den Eltern eine wahre Freude. Sie ist ein aufgewecktes Kind, sportlich, lernbegierig und schon früh sehr selbstbewusst und willensstark.

Der Vater in “Leben? oder Theater?” und mit Charlotte auf dem Balkon

Schon bald macht sich bei der Mutter die Krankheit bemerkbar, die wie ein Fluch auf der Familie mütterlicherseits lastet: schwerste Depressionen. Franziska zieht sich zurück, ist tagelang nicht ansprechbar. Charlotte bleibt viel allein. Mehrmals erzählt ihr die Mutter, wie gern sie als Engel im Himmel leben würde. Charlotte begreift nicht, wovon die Rede ist, bittet aber die Mutter, ihr von dort zu schreiben.

Als Engel im Himmel, aus “Leben? oder Theater?”

Das Mädchen ist acht Jahre alt, als die Mutter 1926 Selbstmord begeht. Sie stürzt sich aus dem Fenster. Auf Anraten der Großmutter wird dem Kind gesagt, sie sei an Grippe gestorben. Doch Charlotte spürt, dass dies nicht stimmen kann. War die Mutter nicht vor ein paar Tagen noch gesund? Vor allem aber wird sie wütend, als die erhofften Briefe aus dem Himmel ausbleiben. Die Mutter hat ihr doch versprochen, von dort zu schreiben.

Der Vater findet nur wenig Zeit, sich um die verstörte Tochter zu kümmern. Seine Tätigkeit als Arzt und Wissenschaftler nimmt ihn ganz in Anspruch. Zu den Großeltern geht das Kind nur ungern, zu düster ist dort die Stimmung. Mehrere Kindermädchen wechseln. Keine hält es lange mit Charlotte aus, denn diese gibt sich größte Mühe, sie alle hinauszuekeln. Bis sie im Urlaub in Südtirol eine junge Kindergärtnerin kennen lernt, zu der sie sofort Vertrauen fasst.

aus “Leben? oder Theater?”

Tatsächlich kann sie ihren Vater überreden, die junge Frau als Kindermädchen nach Berlin zu holen. Durch sie wird Charlottes Interesse an Malerei geweckt.

“Charlotte ist sehr glücklich mit dem neuen Fräulein”, aus “Leben? oder Theater?”

Ein paar Schritte von der Wielandstraße entfernt besucht Charlotte das Fürstin-Bismarck-Gymnasium, heute Sophie-Charlotte-Gymnasium, in der Sybelstraße.

Das ehemalige Fürstin-Bismarck-Gymnasium © Petra Häring-Kuan

Nach drei Jahren lernt der Vater die gefeierte Sängerin Paula Lindberg kennen, eine in Mannheim und Berlin ausgebildete klassische Sängerin. Angesichts der bereits spürbaren antisemitischen Stimmung hat sie ihren jüdischen Geburtsnamen Levi abgelegt und den Künstlernamen Lindberg angenommen.

Paula Lindberg, aus “Leben? oder Theater?”

1930 heiraten Albert Salomon und Paula Lindberg. Charlotte ist begeistert. Von nun an kommt wieder Leben in ihr Zuhause. Berühmte Persönlichkeiten sind zu Gast, Künstler und Intellektuelle wie Albert Einstein, Erich Mendelssohn und Albert Schweizer. Und vor allem sitzt sie nun bei jedem von Paulas Konzerten in den vordersten Reihen. Musik, Literatur und Kunst – Charlotte erhält eine umfassende Bildung.

Paula ist eine gefeierte Sängerin, aus “Leben? oder Theater?”

1933 – Machtantritt der Nationalsozialisten

Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten verändert sich das Leben der Salomons. Juden werden zunehmend vom öffentlichen Leben ausgegrenzt. Der Vater verliert seine Position an der Charité. Ab 1936 arbeitet er im Jüdischen Krankenhaus der Stadt. Paula bekommt ein öffentliches Auftrittsverbot. Sie darf nur noch vor jüdischem Publikum Werke jüdischer Komponisten singen, aber auch das wird irgendwann verboten. Freunde gehen bereits 1933 ins Ausland und raten den Salomons, es ihnen gleichzutun. Auch die Großeltern verlassen Berlin. Sie emigrieren zunächst nach Italien, dann nach Südfrankreich. Die Salomons wollen bleiben. Sie glauben an ein baldiges Ende der nationalsozialistischen Herrschaft.

Machtantritt der Nationalsozialisten, aus “Leben? oder Theater?”

Auch Charlotte erfährt Anfeindungen und Ausgrenzung. Ein Jahr vor ihrem Abitur hält sie es nicht mehr aus und verlässt die Schule. Fortan bekommt sie Privatunterricht.

Im Sommer 1933 fährt sie nach Rom und trifft dort ihre Großeltern. Die Eindrücke, die sie in den dortigen Museen gewinnt, bestärken sie in ihrem Wunsch, Malerei zu studieren.

Da ihr Vater im Ersten Weltkrieg als Chirurg im Fronteinsatz gedient hat, erhält sie trotz jüdischer Abstammung die Erlaubnis, ab 1935/36 an der Berliner Kunsthochschule zu studieren. Sie ist inzwischen scheu und zurückhaltend, entspricht in ihrem Aussehen auch nicht dem Klischee einer Jüdin. Sie fällt kaum auf und es ist ein Glück für sie, sich intensiv mit der Kunst auseinandersetzen zu können.

In der Kunsthochschule, aus “Leben? oder Theater?”

Doch zwei Jahre später wird an der Schule ein Wettbewerb ausgetragen. Unter den anonym eingereichten Arbeiten der Studenten wählt die aus Lehrern und Professoren bestehende Jury Charlottes Gemälde für den ersten Preis aus. Als Jüdin darf sie den Preis jedoch nicht erhalten. Stattdessen bekommt ihn eine arische Kommilitonin. Aus Protest nimmt Charlotte nicht mehr am Unterricht teil.

Nach der sogenannten Reichspogromnacht am 9. November 1938 wird Albert Salomon verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Seiner gut vernetzten Frau gelingt es, ihn nach 20 Tagen freizubekommen. Er ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Für eine Emigration ist es nun zu spät. Man hat ihnen bereits die Pässe abgenommen.

Flucht ins Ausland

Die Eltern wollen zunächst Charlotte in Sicherheit bringen. Im Dezember 1938 schicken sie sie zu den Großeltern nach Südfrankreich. Sie reist mit leichtem Handgepäck, denn offiziell bleibt sie nur für ein Wochenende, um ihre schwerkranke Großmutter ein letztes Mal zu sehen. Auf keinen Fall darf der Verdacht entstehen, dass es sich um eine Flucht handelt, was zur sofortigen Verhaftung führen würde.

Die Großeltern leben in Villefranche-sur-Mer. Sie wohnen dort in einem kleinen Haus auf dem Anwesen einer wohlhabenden deutschstämmigen Amerikanerin, Ottilie Moore, die auch anderen jüdischen Flüchtlingen Schutz und Unterkunft gewährt.

Charlotte mit den Großeltern © Wikimedia Commons

Die Großmutter versteht nicht, warum Charlotte nach Südfrankreich gekommen ist. Sie glaubt nicht, dass sie dort wirklich sicher sind. Dennoch findet Charlotte bei ihnen für kurze Zeit Ruhe und Entspannung. Sie ist überwältigt von dem Licht und der Vegetation Südfrankreichs.

Charlotte in Südfrankreich und im Selbstporträt, aus “Leben? oder Theater?”

Wo immer sie sich aufhält, hat sie Zeichenblock und Farben dabei und malt. Der Großvater zeigt dafür kein Verständnis. Anders Ottilie Moore. Sie erkennt Charlottes Talent und kauft ihr einige Bilder ab. Die beiden Frauen freunden sich an.

Doch das Zusammenleben der Großeltern mit den anderen Flüchtlingen, vor allem mit den Waisenkindern auf dem Anwesen wird immer komplizierter. Das Ehepaar Grunwald beharrt auf alten Gewohnheiten, wie sie sie in ihrem Berliner großbürgerlichen Leben gepflegt haben. Charlotte will die Spannungen entschärfen und zieht mit ihnen nach Nizza in eine kleine Wohnung.

Derweil erfahren die Eltern in Berlin von ihrer unmittelbar bevorstehenden Verhaftung und geplanten Deportation. Mit gefälschten Papieren und der Hilfe vieler Freunde gelingt ihnen im Frühjahr 1939 die Flucht in die Niederlande, wo sie im Untergrund überleben.

Beginn des Zweiten Weltkrieges

Im September 1939 überfällt Deutschland Polen, ab Juni 1940 werden weite Teile Frankreichs besetzt. Im Süden hält sich ein Reststaat mit der Regierung in Vichy, die jedoch mit den Deutschen und deren verbündeten Italienern kollaboriert.

Schockiert von dieser Entwicklung nimmt sich die Großmutter das Leben. Sie stürzt sich vor den Augen ihrer Enkelin aus dem Fenster. Der Großvater – wie von Sinnen – spricht aus, worüber immer geschwiegen wurde. Erst jetzt erfährt Charlotte vom Selbstmord ihrer Mutter. Auch ihre Tante, nach der sie benannt wurde, hätte Selbstmord begangen, ebenso ihre Urgroßmutter und weitere Verwandte mütterlicherseits. Sie wäre die letzte Lebende in einer langen Reihe von Selbstmördern. Deshalb sollte sie sich nun endlich auch das Leben nehmen, sagt der Großvater.

Der Großvater schweigt nicht länger, aus “Leben? oder Theater?”

Im Internierungslager von Gurs

Zwischen Deutschland und Frankreich herrscht Krieg. Viele Deutsche werden als feindliche Ausländer in Internierungslagern festgehalten. So auch Charlotte und ihr Großvater. Sie kommen ins Internierungslager von Gurs nördlich der Pyrenäen. Die Zustände dort sind katastrophal. Charlotte versucht bessere Bedingungen für den Großvater zu erwirken, was ihr auch gelingt. Aufgrund seines hohen Alters und elenden Zustands kommt er tatsächlich nach einigen Wochen frei. Er darf die Enkeltochter als Pflegerin mitnehmen. Diese müsse jedoch nach seinem Tod ins Lager zurückkehren.

Charlotte verliert allmählich den Boden unter ihren Füßen, zumal der Großvater die Abhängigkeit der Enkelin nutzt und sexuell übergriffig wird.

Der Ratschlag des Arztes

Ottilie Moore, ihre einzige Vertraute, bemerkt, dass Charlotte am Ende ihrer Kräfte ist und schickt sie zu dem Arzt, der schon die Großmutter behandelt hat. Dieser rät ihr, das Erlebte aufzuzeichnen und Charlotte erkennt, dass dies wohl der einzige Weg ist, sich von dem gewaltigen Druck, der auf ihr lastet, zu befreien. Sie muss Abstand vom Großvater gewinnen und sich mit ihrem Leben auseinandersetzen. In der Pension eines Ehepaares, das – wie sich später herausstellt – der Resistance angehört, findet sie Unterschlupf. Nur selten verlässt sie das Haus, schläft kaum, malt wie im Rausch. Nach dem Krieg wird die Wirtin erzählen, dass Charlotte während ihrer Arbeit immer gesummt oder gesungen hätte. Viele Melodien hätten vertraut geklungen. So erschließen sich auch die Hinweise auf die Musikstücke, die sie den Darstellungen hinzufügte.

Das Ende

Charlotte spürt, dass ihr nur noch wenig Zeit bleibt. Im Sommer 1942 vollendet sie ihr Werk.

Charlotte am Mittelmeer, aus “Leben? oder Theater?”

Ottilie hat zu dieser Zeit, nämlich im September 1941, bereits das Land verlassen. Mit zehn zum Teil jüdischen Waisenkindern ist sie über Portugal in die USA gereist. Erst nach dem Krieg will sie nach Frankreich zurückkehren. So lange soll ein jüdischer Emigrant aus Österreich, Alexander Nagler, auf das Anwesen aufpassen.

Im Februar 1943 stirbt der Großvater. Aus einem später aufgefundenen Brief Charlottes geht hervor, dass sie ihm bewusst ein Mittel verabreicht hat, das die Großeltern mitgebracht hatten, um selbstbestimmt ihrem Leben ein Ende setzen zu können.

Charlotte lebt wieder auf dem Anwesen ihrer amerikanischen Freundin. Sie und Alexander werden ein Paar. Als Charlotte schwanger wird, heiraten sie.

Nach einem Waffenstillstandsabkommen zwischen Italien und den Alliierten besetzen die Deutschen im September 1943 die ehemals von den Italienern kontrollierte französische Mittelmeerregion und setzen dort den Wahnsinn ihrer Rassenpolitik fort.

Charlotte weiß, dass sie jederzeit verhaftet werden kann. Deshalb übergibt sie ihre Sammlung „Leben? oder Theater?“ dem Arzt zur Aufbewahrung, versehen mit dem Hinweis „Eigentum von Ottilie Moore“. Möglicherweise hofft sie, ihre Arbeit damit schützen zu können, weil man einer Amerikanerin den Besitz vielleicht nicht so einfach wegnimmt. Der Arzt versteckt das Werk vor der Gestapo.

Noch im selben Monat werden Charlotte und Alexander verhaftet und im Oktober nach Auschwitz deportiert. Charlotte stirbt wahrscheinlich schon am Tag ihrer Ankunft in den Gaskammern, ihr Mann im Januar 1944 an Entkräftung.

Spurensuche

1947 reisen Albert Salomon und seine Frau Paula nach Villefranche-sur-Mer. Dort bei den Großeltern hatten sie Charlotte in Sicherheit geglaubt. Seit Anfang 1945 wissen sie, dass ihre Tochter ermordet wurde. Nun hoffen sie, in Villefranche Spuren zu finden und Näheres über Charlottes letzte Lebenszeit zu erfahren. Der Name des Arztes ist ihnen bekannt. Ebenso wissen sie aus Charlottes Briefen von der Freundschaft zu Ottilie Moore. Tatsächlich finden sie Ottilie, die inzwischen wieder in Frankreich lebt. Alle Bilder, die Charlotte in den letzten Jahren gemalt hat, sind in ihrem Besitz. Doch sie verweigert die Herausgabe. Sie hoffe, die Gemälde für viel Geld in New York verkaufen zu können, soll sie laut Paula gesagt haben. Trotzdem gelingt es den Eltern, zumindest ein Selbstporträt zu erwerben. Schließlich überlässt Ottilie ihnen die Sammlung „Leben? oder Theater?“. Sie hält sie für unverkäuflich.

Mit diesem Schatz kehren die Eltern in die Niederlande zurück. So blieb dieses einzigartige Werk bis heute erhalten.

Die Sammlung “Leben? oder Theater?” ist seit 1971 im Besitz des jüdischen historischen Museum in Amsterdam, dem Joods Historisch Museum. Albert Salomon überließ sie dem Museum als Schenkung. Er wollte damit sicherstellen, dass das Werk seiner Tochter auch nach seinem Tod gezeigt wird und die Erinnerung an Charlotte Salomon erhalten bleibt.

Albert Salomon stirbt 1976 im Alter von 93 Jahren. Er ist nie wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Paula Salomon-Lindberg folgt ihm 2000 im Alter von 102 Jahren.

“Leben? oder Theater?“

Die Rückschau auf ihr Leben und das ihrer Familie kam für Charlotte Salomon einer emotionalen Befreiung gleich. Ihre Schilderungen bewegen sich vor dem Hintergrund der Ereignisse zwischen 1913 und 1940, berichten über den um sich greifenden Antisemitismus und die Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten.

Alfred Wolfsohn, alias Amadeus Daberlohn, aus “Leben? oder Theater?”

Aber ist auch alles wahr, was sie in ihrem Werk erzählt oder hat sie manchmal ihrer Phantasie freien Lauf gelassen, wie Paula Salomon-Lindberg später vermutet? Dies insbesondere in Hinblick auf die unglückliche Liebesbeziehung zu dem Gesangspädagogen Alfred Wolfsohn, der als Paulas Korrepetitor Zugang zur Familie Salomon erhält. Paula glaubt, dass Charlotte ihn nur wenige Male getroffen hat. Doch in ihrem Werk taucht er unzählige Male auf, wird zu einer zentralen Person in ihrem Leben. Er ist der Erste, der an ihr Talent glaubt und sie maßgebend beeinflusst. Er bat sie sogar, eins seiner Bücher zu illustrieren. Alfred Wolfsohn war Charlottes große Liebe. Sie nennt ihn Amadeus Daberlohn in ihrem Werk, wobei der Nachname wohl einen Hinweis auf seine prekäre finanzielle Situation geben soll. Auch die Namen aller anderen Bezugspersonen hat sie verändert. In mancher Hinsicht lässt die Wahl der Namen auf das Wesen der Personen schließen. Aus ihrem Vater Albert Salomon wird Albert Kann, aus Paula Lindberg Paulinka Bimbam, aus dem griesgrämigen Großvater Ludwig Grunwald wird Dr. Knarre.

Erste Ausstellung knappe 20 Jahre nach ihrem Tod

Eine erste Ausstellung von Charlotte Salomons Werk findet 1961 im Museum Fodor in Amsterdam statt. Viele andere Ausstellungen in verschiedensten europäischen Ländern und in Übersee folgen.

Ausstellungsplakat aus Japan
Ausstellungsplakat aus Kanada

Große einzigartige Kunst

Sich mit Leben und Werk von Charlotte Salomon zu befassen, macht betroffen, ist erschütternd und zugleich faszinierend. Welch einen Ideenreichtum besaß diese junge Frau, welch eine unerschütterliche Kraft, mit der sie die Traumata ihres Lebens darstellt.

Es ist ein gemaltes Theaterstück, bestehend aus einem Vorspiel, einem Hauptteil und einem Nachwort. Der erste Aufzug beginnt mit einer in Dunkel gehaltenen Zeichnung und den Worten: „An einem Novembertag verließ Charlotte Knarre das elterliche Haus und stürzte sich ins Wasser.“

Charlotte Salomon war ihrer Zeit voraus. Sie hat ihr Leben und das ihrer Familie gemalt, und zwar in einem Stil, den wir heute Graphic Novel nennen würden. Eine graphische Erzählung, die fast spielerisch die Katastrophen der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts schildert. Das Schicksal einer jüdischen Familie in der Zeit des Nationalsozialismus, geprägt von Schmerz und Terror.

Sie hatte die Wahl, ihrem Leben ein Ende zu setzen, wie von ihrem Großvater gefordert, oder etwas ganz Verrückt-Besonderes zu schaffen. Sie entschied sich für Letzteres und schuf ein monumentales Werk – große einzigartige Kunst, die es wert ist, noch viel bekannter zu werden.

Es ist immer wieder erschütternd, Zeugnisse aus dieser Zeit zu lesen und ich frage mich oft, wie dies alles geschehen konnte. Was hat unser Land anderen angetan, und was auch sich selbst angetan!

Empfehlungen:

Es gibt drei Bücher, die ich jedem empfehle, der sich näher mit Charlotte Salomon beschäftigen möchte:

Margret Greiner, Charlotte Salomon: “Es ist mein ganzes Leben”, München 2017

David Foenkinos, Charlotte, München 2014

Judith C.E. Belinfante, Charlotte Salomon. Leben? oder Theater? Köln 2017

 

 

 

 

 

 

 

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