Kalligraphie – das Herz der chinesischen Kultur

Seit November 2021 gibt es in Hamburg einen Verein für chinesische Kalligraphie. Ich war dabei, als ihn mehrere in Hamburg und Umgebung ansässige Chinesinnen gründeten. Sie hatten sich entschlossen, unter professioneller Anleitung die alte Schriftkunst zu erlernen. Bitte nicht missverstehen: Natürlich können alle von ihnen schreiben und eine jede beherrscht mehrere Tausend Schriftzeichen. Doch eines muss man wissen: die Schrift als Mittel, das gesprochene Wort zu Papier zu bringen, ist eine Sache, die Kalligraphie jedoch ist eine ganz andere. Ich möchte dies an dem Zeichen für Regen demonstrieren. Dies ist die gedruckte Form: 雨. Und so kann das Zeichen in zwei von vielen Kalligraphie-Stilen aussehen:

Die Kalligraphie gehört zu den ältesten und am meisten praktizierten Künsten Chinas. Sie ist mehr als nur eine Schönschrift. Sie bildet das Herz der chinesischen Kultur.

Kürzlich traf ich einige der Vereinsmitglieder wieder und war überrascht über die Fortschritte, die einige von ihnen gemacht haben. Monatelang haben sie geübt, coronabedingt oft allein zu Hause oder vereint per Zoom-Schaltung. Die Freude war groß, endlich wieder gemeinsam üben zu können.

Mitglieder des Vereins für chinesische Kalligraphie treffen sich im Unterrichtsraum eines Hamburger Gymnasiums © Petra Häring-Kuan

Zum Alter der chinesischen Schrift

Peking, im Jahre 1899: Als der hochrangige Beamte WANG Yirong (1845-1900) an Malaria erkrankt, schickt ihm der besorgte Kaiser seinen Leibarzt. Dieser verordnet Wang eine entsprechende Arznei. Wie in der Traditionellen Chinesischen Medizin üblich werden Arzneien nach Symptomatik des Patienten individuell zusammengestellt und können verschiedene Heilkräuter, Mineralien und tierische Substanzen enthalten. Apotheken stellen die Mischungen nach ärztlichem Rezept zusammen, die dann im Haus des Patienten gekocht und als Sud eingenommen werden. WANG Yirong lässt also die Arznei besorgen und prüft nach Erhalt deren Zutaten. Da entdeckt er kleine Knochenteile mit merkwürdigen Ritzungen. Drachenknochen nennt man diese kostbare und seltene Zutat, die normalerweise zermahlen einer Mischung beigefügt wird. Doch wie es der Zufall will, ist dies an jenem Tag unterlassen worden, so dass der Beamte sie entdeckt.

Der kaiserliche Beamte WANG Yirong

Bei genauerer Betrachtung fällt Wang Yirong auf, dass einige der geritzten Striche alten chinesischen Schriftzeichen gleichen. Zwar ist er ein Experte für alte Schriftzeichen, doch zweifelt er scheinbar an seiner Wahrnehmung und ruft den bekannten Schriftsteller, LIU E, hinzu. Auch dieser kennt sich hervorragend mit alten Schriftzeichen aus. Liu bestätigt die Vermutung des Beamten Wang. Es handelt sich tatsächlich um uralte chinesische Schriftzeichen. Daraufhin erkundigen sich die beiden nach der Herkunft der sogenannten Drachenknochen und stellen fest, dass sie alle aus der Nähe der heutigen Stadt Anyang in der Provinz Henan stammen. Bauern haben sie dort bei der Feldarbeit gefunden und an Apotheken verkauft. Eigentlich handelt es sich um Tierknochen wie Ochsen-Schulterblätter oder Schildkrötenpanzer. Doch der Volksmund nennt sie Drachenknochen und sagt ihnen wundersame Heilkräfte nach.

Die Entdeckung des aufmerksamen Beamten WANG Yirong war für die damalige Zeit eine Sensation, denn sie lieferte den Beweis, dass die chinesische Schrift 3000 bis 4000 Jahre alt ist. Vielleicht ist sie sogar noch älter, denn die Zeichen gelten als recht ausgereift, so dass die Entstehung der Schrift noch weiter zurückliegen mag.

Grabungen in der Nähe der Stadt Anyang ergaben, dass sich dort die Hauptstadt Yin der Shang-Dynastie (1600-1046 v. Chr.) befunden hat. Man fand mehr als hunderttausend solcher Knochenteile. Sie werden heute Orakelknochen genannt, denn inzwischen weiß man, dass sie zur Weissagung genutzt wurden.

Orakelknochen – Eingeritzte Schriftzeichen auf Schildkrötenpanzer

Um den Willen der Ahnen zu erkunden hinsichtlich eines geplanten Krieges, kommender Ernten, anstehender Reisen oder anderer Dinge, befragte man das Orakel. Die Tierknochen wurden auf der Innenseite dünn ausgeschabt, dann erhitzt, bis sich Sprünge bildeten, die daraufhin von Wahrsagern gedeutet wurden. Hinterher ritzte man detaillierte Angaben zum Orakel in die Knochen ein und nummerierte und archivierte sie. Angegeben wurde der Name des Wahrsagers, der Tag der Befragung, die Frage selbst, die Anzahl der Sprünge, ihre Deutung und ob sich die Weissagung bewahrheitet hat.

Die Orakelknochen von Anyang gehören zu den ältesten Zeugnissen chinesischer Schrift und deshalb zum UNESCO Welterbe. Einmalig sind auch die Informationen, die die Inschriften zum Leben im zweiten vorchristlichen Jahrtausend liefern.

Die Besonderheit der chinesischen Schriftzeichen

Im Deutschen brauchen wir nur 26 lateinische Buchstaben und einige wenige Zusatzzeichen, um alle Wörter unserer Sprache niederzuschreiben. Wir bedienen uns einer Lautschrift, und wer schreiben kann, ist in der Lage, alle Wörter zu Papier zu bringen. Ein Problem entsteht erst, wenn man beispielsweise einen spanischsprachigen Text lesen soll, der zwar ebenfalls in lateinischer Schrift verfasst wurde, doch für jeden, der des Spanischen nicht mächtig ist, unverständlich bleibt.

Anders verhält es sich bei der chinesischen Schrift. Sie basiert auf Piktogrammen, also auf bildlichen Darstellungen von Gegenständen und Inhalten. Man muss die Zeichen kennen, um sie lesen zu können. Das hat den Vorteil, dass jeder Schriftkundige die Zeichen deuten kann, unabhängig davon wie sie im Dialekt oder in der Sprache des Verfassers ausgesprochen werden. Die Dialekte in China können so unterschiedlich klingen wie Schwedisch und Italienisch. Wer sie nicht gelernt hat, versteht kein Wort.

Bis ins dritte vorchristliche Jahrhundert gab es in den Fürstentümern und Königreichen Chinas nicht nur unzählige Dialekte und verschiedene Sprachen, auch die Schriftzeichen konnten ganz beträchtlich variieren. Dann aber erhob sich im Jahre 221 v. Chr. der König von Qin (259-210 v. Chr.) zum Ersten Kaiser Chinas, Qin Shi Huangdi, nachdem er seine Kontrahenten unterworfen und das Reich unter seiner Herrschaft geeint hatte. Zu seinen ersten Reformen gehörte die Vereinheitlichung der Schrift. Dass China als riesige Kulturnation über mehr als zweitausend Jahre bis heute Bestand hat, ist nicht zuletzt diesem Kaiser und seiner Schriftreform zu verdanken. Denn so wurde ein Text für alle lesbar, ganz gleich aus welcher Ecke dieses riesigen Reiches er stammte.

Die Vielzahl an Schriftzeichen

Die chinesische Sprache kennt nur einsilbige Wörter. Jedes Zeichen steht für ein Wort. Allerdings können mehrere Silben bzw. Wörter zusammengefügt werden, so dass ein neues Wort entsteht. Zum Beispiel ergibt das Zeichen für Dampf 汽 zusammengefügt mit dem Zeichen für Wagen 车 den Begriff 汽车Auto.

Wie viele Zeichen es insgesamt gibt, weiß wohl niemand so genau. Unter Kaiser Kangxi (1662-1722) wurde ein Lexikon mit über vierzigtausend Zeichen herausgebracht. Viele von diesen Zeichen werden nicht mehr oder nur selten gebraucht. Um heute Zeitung lesen zu können, genügt es, etwa 4000 Zeichen zu beherrschen. Das bedeutet aber, dass Kinder schon im frühen Alter beginnen müssen, die Zeichen zu lernen.

Jedes Zeichen passt in ein Quadrat. Hier wird auch die Strichfolge angezeigt. © Petra Häring-Kuan

Es gibt Zeichen, die nur aus einem Strich bestehen, es gibt aber andere, die es auf 25 Striche bringen, und dies in der reformierten Schrift. Gemeint sind die Kurzzeichen, die 1955 in der Volksrepublik China eingeführt wurden. In Taiwan nutzt man noch immer die sogenannten Langzeichen, die aus weit mehr als 25 Strichen bestehen können.

Die vier Schätze des Gelehrtenzimmers

Anders als es heute den Anschein hat, war das Kalligraphieren einst hauptsächlich Männersache und gehörte zur Grundausbildung der Gelehrten, die sich auf die kaiserlichen Beamtenprüfungen vorbereiteten. Deshalb spricht man von den vier Schätzen des Gelehrtenzimmers und meint damit die vier unverzichtbaren Utensilien für die Kalligraphie: Pinsel, schwarze Tusche, Reibstein und saugfähiges Xuanzhi-Papier.

Pinsel gibt es in verschiedensten Stärken. Der Stiel besteht meist aus Bambus, die Spitze aus Tierhaaren. Flüssige Tusche gibt es zwar gebrauchsfertig zu kaufen, doch bevorzugen viele Kalligraphen die feste Stangentusche, die auf einem Reibstein mit etwas Wasser so lange gerieben wird, bis sie die gewünschte Färbung (von tiefschwarz bis hellgrau) hat. Sie wird aus Lampenruß oder dem Ruß verbrannten Kiefernholzes und Leim hergestellt. Das Xuanzhi-Papier wird traditionell aus Pflanzenfasern gewonnen.

Das Spiel mit der unterschiedlichen Intensität der Tusche. Eine Kalligraphie des Shanghaier Kalligraphen CHEN Heliang © Petra Häring-Kuan

Chinesische Kalligraphie – das Herz der chinesischen Kultur

Sich mit der Kalligraphie zu beschäftigen, bedeutet für viele jüngere, vor allem im Ausland lebende Chinesen eine Rückbesinnung auf ihre kulturellen Wurzeln. Ich fragte BAO Han, die in dem Verein ihre Mitstreiter unterrichtet, warum sie sich so intensiv mit der Kalligraphie beschäftigt. Sie hat in China Germanistik studiert und machte dort und seit sie in Deutschland lebt auch hier Karriere. Als Kind war sie von ihrer Mutter oft dazu angehalten worden, Schönschrift zu üben. Doch hatte sie dazu nur wenig Lust und nutzte viele Ausreden, um nicht üben zu müssen. Bis die Mutter die Geduld verlor und nachgab. Erst viele Jahre später begriff BAO Han, wie wichtig es ist, die eigenen kulturellen Wurzeln zu pflegen. Deshalb entschloss sie sich zu einem intensiven Studium der Kalligraphie, die sie inzwischen als Quintessenz der chinesischen Kultur betrachtet. Und so gibt sie heute mit großem Engagement ihr Wissen weiter.

BAO Han mit einer ihrer Schülerinnen © Petra Häring-Kuan

Die Kalligraphie ist aus dem täglichen Leben der Chinesen nicht wegzudenken. Zu keinem feierlichen Anlass, zu keinem Festtag darf sie fehlen. Tore, Türen und Hauswände werden mit glücksbringenden Sprüchen geschmückt, Tempel, Pagoden und Denkmäler mit kunstvollen Schriftzügen versehen. Schriftzeichen prägen das Straßenbild in den Städten und sind auch in der Natur zu finden, als Inschriften an Bergen, Felsformationen und Steinen. Kalligraphien hängen zur Dekoration an den Wänden von Wohnräumen in Form von Schriftrollen oder in Rahmen. Manchmal lagern sie auch zusammengerollt in Studios und werden nur interessierten Gästen gezeigt. Über Kalligraphien lässt sich stundenlang fachsimpeln. Sie faszinieren, begeistern und wecken in manchen Herzen eine starke Sammelleidenschaft. Von Kaiser Tai Zong (597-649) wird erzählt, dass er einen vertrauten Beamten zum Diebstahl anstiftete, um an das Hauptwerk des WANG Xizhi (303-361) zu kommen, der bis heute zu den berühmtesten Kalligraphen des Landes zählt. Der Diebstahl gelang. Das Werk kam tatsächlich in den Besitz des Kaisers. Es soll ihm sogar mit ins Grab gegeben worden sein.

Eine Kalligraphie des WANG Xizhi

Die Kalligraphie verrät viel über Bildung, Talent und Geist des Verfassers, weshalb es auch ein gewisses Selbstbewusstsein erfordert, sie vor Publikum zu demonstrieren oder andere mit eigenen Werken zu beschenken. Ist jedoch bekannt, dass jemand gut kalligraphieren kann und lässt sich dieser etwa im Freundeskreis zur Demonstration seiner Kunst hinreißen, dann sind die Zuschauer meist sehr dankbar, wenn sie eine Kalligraphie ergattern können.

Professor KONG Zhongqi in Hangzhou – Ein Leben für die Malerei und Kalligraphie © Petra Häring-Kuan

Für meine Freundinnen aus dem Kalligraphieverein sind die gemeinsamen Unterrichtsstunden ein großes Vergnügen. Die Kalligraphie ist für sie nicht nur kulturelles Erbe, sie bedeutet ihnen auch ein Stück Heimat. Oder wie eine von ihnen es ausdrückt: „Ich fühle mich beim Kalligraphieren meinen Eltern immer sehr nahe.“

Eine Architektin beim Kalligraphieren © Petra Häring-Kuan
5 Kommentare
  1. 谢谢您的文章,娓娓道来,又知性又感性,令人读来既增长知识,又充滿趣味????????Vielen Dank für den informativen wie interessanten Beitrag! Die Art und Weise, wie du über die chinesische Kalligraphie und die Vereinsmitglieder berichtest, ist faszinierend wie berührend????

  2. Liebe Petra,
    meine Ballettfreundin, Petra, hat mir deinen Link geschickt und ich habe alles über Loriot und Kalligraphie, mit Freude und großem Interesse gelesen.
    Es grüßt herzlich
    Renate

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