Im Grunewald ist Holzauktion, Teil II – Die Millionärskolonie

Das Villenviertel Grunewald, von manchen auch „Millionärskolonie“ genannt,  war vor hundert Jahren eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten Berlins, ein Ort, den man unbedingt gesehen haben musste. Innerhalb von 15 Jahren waren hier auf frisch gerodetem Grunewaldgelände 200 Villen, Landhäuser und Palais gebaut worden für Mitglieder der führenden Elite der Stadt: Bankiers, Unternehmer, Staatsbeamte, Intellektuelle und Künstler. Eine privilegierte Gesellschaft, der es gelang, in kürzester Zeit aus ihrem Viertel ein Zentrum des Berliner Geisteslebens zu machen.

Streife ich heute durch das Viertel, frage ich mich oft, wie die Atmosphäre wohl gewesen sein mag, damals, bevor die Nationalsozialisten die jüdischstämmigen unter den Bewohnern vertrieben oder umbrachten. Bevor im Zweiten Weltkrieg Luftangriffe der Alliierten etliche Villen zerstörten und man die entstandenen Lücken in der Nachkriegszeit mit Flachbauten und Reihenhäusern füllte. Bevor großzügig angelegte Grünanlagen verschwanden und Gärten verkleinert wurden, um Raum für den modernen Straßenverkehr zu schaffen. Und bevor der Trend einsetzte, das Viertel nicht nur als Wohngebiet, sondern auch als Büro- und Dienstleistungsstandort zu nutzen.

Doch der Reihe nach: zurück ins Jahr 1886, als der„Kurfürstendamm“  als Prachtboulevard eingeweiht wurde. (Siehe Artikel „Im Grunewald ist Holzauktion, Teil I – Der Prachtboulevard“) Die Kurfürstendamm-Gesellschaft hatte ihren Teil der Abmachung erfüllt. Die Investoren gingen deshalb davon aus, dass ihr Vertragspartner, die Königliche Regierung zu Potsdam, nun ihrerseits die Vereinbarungen erfüllen und die 234 Hektar Grunewald für den Bau der Villenkolonie freigeben würde. Doch das verzögerte sich. Der Protest gegen dieses Projekt war von Anfang an groß gewesen. Schon damals wussten viele Menschen den Wert stadtnaher Wälder als Erholungsgebiet zu schätzen, weshalb sie eine Rodung kategorisch ablehnten. Andere argumentierten aus ganz anderen Gründen gegen eine Bebauung.

Der Grunewald war Teil einer eiszeitlichen Grundmoränenlandschaft, durchzogen von Rinnentälern mit Seen, Sümpfen und Mooren. Vor allem in den Moorseen vermutete man Brutstätten gefährlicher Insekten und Krankheitserreger. Wie sollte man dort wohnen können? Das morastige Gelände sei für eine Bebauung völlig ungeeignet. Und überhaupt: eine Villenkolonie für Reiche trug nicht dazu bei, die bedrückend engen Wohnverhältnisse in Berlin zu lösen.

Es wird erzählt, dass just zu dieser Zeit wieder einmal eine Cholera-Epidemie Europa bedrohte. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts hatte die Cholera schon mehrere Male in Europa gewütet. Aus Indien kommend verbreitete sie sich vor allem entlang der Handelswege. Auch Berlin war mehrmals heimgesucht worden. Während des preußisch-österreichischen Krieges von 1866 sollen mehr Soldaten an Cholera gestorben als auf dem Schlachtfeld gefallen sein. Man wusste also sehr genau wie schnell sich diese Epidemien ausbreiteten und wie viele Opfer sie forderten. Unklar war man sich immer hinsichtlich des Ursprungs und der Übertragung dieser Krankheit gewesen, bis Robert Koch 1884 den Nachweis des Cholera-Erregers erbrachte und den Zusammenhang zu verunreinigtem Trinkwasser aufzeigte.

Als nun erneut die Gefahr einer Epidemie drohte, soll Bismarck sofort gehandelt haben. Die Cholera ließe sich nur aufhalten, wenn Gräben und Sümpfe, die sich in der Nähe von Wohngebieten befinden, zugeschüttet oder trockengelegt würden. Das sollte auch stadtnahe Teile des Grunewalds einschließen. Niemand wagte angesichts einer drohenden Cholera dagegen zu opponieren. Tatsächlich blieben Berlin und Europa diesmal verschont. Den letzten großen Ausbruch erlebte Deutschland wenig später, nämlich 1892, als Hamburg heimgesucht wurde und Robert Koch beim Besuch der alten Hansestadt angesichts der desolaten hygienischen Zustände sich nicht mehr im zivilisierten Europa zu befinden glaubte.

Endlich wurden die 234 Hektar Grunewald freigegeben. Der erste Spatenstich erfolgte im April 1889. Noch im selben Jahr ging das ehemals gepachtete Gebiet per Kaufvertrag in den Besitz der Kurfürstendamm-Gesellschaft über.

Mehrere Hundert polnische Arbeiter wurden angeworben. Ihnen ist zu verdanken, dass schon drei Jahre später die ersten Villen bezogen werden konnten. Zunächst erfolgten die Rodungsarbeiten, wodurch massenweise Holz anfiel, das teils verwertet, teils zu niedrigen Preisen verkauft wurde. So entstand um 1892 der Gassenhauer „Im Grunewald ist Holzauktion“, der auch in Schlesien, der Heimat meiner Mutter, gesungen wurde – wie in dem oben genannten Artikel erwähnt.

Als besonders aufwendig gestaltete sich die Trockenlegung der Sümpfe und Moore. Die Moorseen mussten ausgehoben und die entstandenen Becken durch komplizierte Verfahren neu bewässert werden. Die dadurch geschaffenen Seen, Koenigs-, Hertha-, Diana- und Hubertussee, passten sich idyllisch in das neu gestaltete Gelände ein.  Geschickte Uferbepflanzungen ließen vergessen, dass es sich eigentlich um künstlich angelegte Gewässer handelte.

Nach den erfolgten Bodenarbeiten wurden Straßen angelegt und Parzellen von 1300 bis 2000 Quadratmetern Größe abgesteckt und verkauft. Bei Bedarf konnten mehrere Parzellen zu einem großen Grundstück zusammengelegt werden. Schon allein durch die vorgeschriebene Mindestgröße der Grundstücke war klar, dass man sich an eine begüterte Klientel wandte. Detaillierte Bauvorschriften sorgten für die Wahrung eines ländlichen Charakters, wie etwa die Vorgabe einer landhausgemäßen Bebauung.

Nur drei Stockwerke sollte ein Gebäude zählen und eine Höhe von 15 Metern nicht überschreiten. Auch durfte nur etwa ein Drittel eines jeden Grundstücks bebaut werden, um genügend Platz für Gärten zu lassen. Die Stirnseite der Häuser hatte zur Straßenseite zu zeigen, Zäune und Bepflanzungen in den Vorgärten durften nicht den Blick auf die Häuser verwehren. Derart detaillierte Vorschriften galten nicht für die besonders beliebten Seegrundstücke, wo fürstliche Palais mit Parklandschaften entstanden. Wichtig war auch die Verordnung, dass die Villen als Hauptwohnsitz zu nutzen waren und nicht als Ferien- oder Wochenenddomizil. Daran hielt man sich gern, denn die Villenkolonie galt seit 1899 als selbstständige Landgemeinde im Landkreis Teltow, wo ein wesentlich niedrigerer Steuersatz erhoben wurde als in Berlin. Für betuchte Investoren bedeutete dies, dass ein Teil der hohen Grundstückspreise allein durch die Steuerersparnisse finanziert werden konnte. Erst 1920 wurde Berlin-Grunewald nach Groß-Berlin eingemeindet.

Zu den ersten Investoren, die schnell reichlich Baugrund erwarben, gehörten die Bankiers Koenigs, Fürstenberg und Mendelssohn. Nach Felix Koenigs, Direktor des Bankhauses Delbrück Leo & Co., sind der Koenigssee und die Koenigsallee benannt. Carl Fürstenberg hatte die Berliner Handels-Gesellschaft zur führenden deutschen Bank im Unternehmensgeschäft gemacht. Die Brüder Robert und Franz von Mendelssohn waren Bankiers in sechster Generation. Sie alle waren leidenschaftliche Kunstsammler, die als Mäzene die Kunstszene umfassend förderten. Viele Museen in Berlin und anderenorts verdanken ihnen großzügige Spenden. Ihre Villen und Palais wurden zu Mittelpunkten des gesellschaftlichen Lebens. So auch die Villa des Samuel Fischer, Gründer des Fischer-Verlages. Seine Tochter Brigitte erzählt in ihren Lebenserinnerungen, „Sie schrieben mir – oder was aus meinem Poesiealbum wurde“, von den vielen Gesellschaften, die in ihrem Elternhaus stattfanden. Unter anderem berichtet sie von einem rauschenden Fest im Jahre 1911, mit dem der Erfolg der Dresdner Uraufführung des „Rosenkavalier“ gefeiert wurde. Die Musik stammte von Richard Strauß, der Text von Hugo von Hofmannsthal. Brigitte Fischer schreibt: „Von Dresden aus kamen Hofmannsthals nach Berlin, und wir veranstalteten ihnen zu Ehren ein Fest in unserem Haus, bei dem zum ersten Mal nach den Klängen des Rosenkavalierwalzers getanzt wurde.“ Der Berliner Kulturbetrieb soll noch lange von diesem Ereignis gesprochen haben. Samuel Fischer lebte seit 1905 im Grunewaldviertel.

Seine Villa war weit über die Grenzen Berlins hinaus als exklusiver kultureller Treffpunkt bekannt. Zu den Autoren des Fischer-Verlages gehörten Thomas Mann, Hermann Hesse, Stefan Zweig und auch Walther Rathenau, Großindustrieller, Unternehmer, Fachmann für Finanzen und seit 1922 Außenminister der Weimarer Republik. Der Sohn des AEG-Gründers wohnte nur ein paar Häuser weiter. Eine an der AEG teilhabende Großbank war die des oben genannten Carl Fürstenberg.

Typisch für das damalige Grunewaldviertel waren die einzelnen Freundeskreise, die sich im Laufe der Zeit bildeten, und die Verbindungen, die zwischen Kapital und Kultur geknüpft wurden. So förderte der oben erwähnte Bankier und Kunstsammler Felix Koenigs die Künstlergemeinschaft „Sezession“, also Maler wie Max Liebermann und Walter Leistikow. Walter Leistikow bewohnte im Grunewald eine kleine Holzvilla, die zum Anwesen des Hermann Rosenberg gehörte. Rosenberg war Bankier und langjähriger Mitarbeiter seines Grundstücksnachbarn, des Bankier Carl Fürstenberg. Der Maler Leistikow war unter anderem befreundet mit dem Schriftsteller Gerhart Hauptmann, der ebenfalls für einige Jahre im Grunewaldviertel wohnte. Dessen jüngster Sohn spielte mit den Kindern des Verlegers Samuel Fischer, der wiederum Hauptmanns Werke verlegte. Zu den Nachbarn der Fischers gehörte die Familie des Komponisten Engelbert Humperdinck. Seine zwei Kinder musizierten mit denen der Fischers.

Man kannte sich in diesem Viertel, hatte ähnliche Interessen und traf sich zu verschiedensten Anlässen. Mal wurde zum Tee, mal zum Diner geladen, mal zu Konzerten, Lesungen, Vorträgen oder Festen. Oft reisten Künstler und Wissenschaftler von weither an, um hier Kontakte zu knüpfen und Unterstützung zu finden. Viele Projekte nahmen im Grunewaldviertel ihren Anfang.

Obwohl der jüdische Anteil der Einwohner des Grunewaldviertels nur bei etwa 15 Prozent lag, waren gerade sie es gewesen, die ihre Villen zu Begegnungsstätten machten und die Atmosphäre des Viertels entscheidend prägten. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten versetzte dem Viertel einen schweren Schlag, von dem es sich nie mehr erholen sollte. Schon früh hatte es Warnsignale gegeben. Am 24.6.1922 wurde Walther Rathenau an der Kreuzung Erdener Straße, Ecke Koenigsallee in seinem offenen Wagen von Rechtsradikalen erschossen. Wie Rathenau waren auch Carl Fürstenberg, Robert und Franz von Mendelssohn sowie Samuel Fischer jüdischer Abstammung. Sie starben eines natürlichen Todes noch bevor die Verfolgungen durch die Naziherrschaft ihren Höhepunkt fanden. Ihre Familien konnten fliehen. Sie besaßen genug Kontakte ins Ausland und finanzielle Rücklagen, um rechtzeitig fortzugehen. Samuel Fischer starb im Oktober 1934. Seine Tochter, die den Verlag übernommen hatte, sah sich bereits 1935 gezwungen, Deutschland zu verlassen. Ihre Flucht ging zunächst nach Österreich, dann nach Schweden und schließlich in die USA. Ihre Mutter harrte in ihrer Villa im Grunewald aus. Wie viele andere Bürger jüdischer Abstammung wartete sie ab, weil sie der deutschen Rechtstaatlichkeit vertraute und an den Irrsinn der Judenverfolgung einfach nicht glauben konnte. Erst 1939 ergriff sie in letzter Minute die Flucht und folgte ihrer Tochter nach Stockholm. Für viele andere war es zu spät. Sie wurden umgebracht oder in den Selbstmord getrieben. Nur wenigen gelang es, unterzutauchen. Andere konnten sich zunächst ins europäische Ausland retten, gingen dann aber doch den Schergen ins Netz. Wie der jüdische Textilunternehmer Siegfried Heidemann, der nach Holland floh, doch wenige Tage vor Kriegsende im Konzentrationslager Bergen-Belsen seinen Tod fand.

Am südwestlichen Rand des Villenviertels liegt der Bahnhof Grunewald, erbaut 1879 und angeschlossen an die neue Eisenbahnverbindung Berlin – Metz (Elsaß-Lothringen). Das heute noch erhaltene Bahnhofsgebäude stammt aus dem Jahr 1899. Von diesem Bahnhof aus wurden seit dem 18.10.1941 Tausende von Berliner Juden in die osteuropäischen Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Gedenktafeln und Mahnmale erinnern an das Grauen jener Tage. Auch von den Berliner Bahnhöfen Moabit und Anhalter starteten Deportationszüge. 1933 lebten etwa 170.000 Juden in Berlin. Nach der Naziherrschaft waren es nur noch etwa 6.500.

In manche der verlassenen Villen zogen die neuen Herren und ihre Organisationen ein. So residierte Heinrich Himmler in einer Villa in der Hagenstraße, das Mendelssohn-Palais wurde „Reichsgästevilla”, in die Villa des Publizisten Maximilian von Harden zog die „Deutsche Arbeitsfront“, die nach Ausschaltung der Freien Gewerkschaften 1933 gegründet worden war.

Nicht nur die Nazizeit und die Zerstörungen während des Zweiten Weltkriegs setzten dem Viertel arg zu. Auch in den ersten beiden Jahrzehnten der Nachkriegszeit veränderte sich das Erscheinungsbild des Grunewaldviertels, weil die verantwortlichen Behörden von den gestalterischen Vorgaben der Gründer abrückten. Verschiedene Großvillen wurden abgerissen, die Grundstücke neu aufgeteilt und mit Bungalows, mehrgeschossigen Flachbauten oder Reihen- und Terrassenhäusern bebaut, oftmals in einheitlichen Baugruppen, die in ihrer Ausrichtung nicht mehr dem Straßenverlauf folgten.

Erst seit den 1980er Jahren erfolgte ein Umdenken. Heute möchte man das ländlich geprägte Ortsbild weitgehend erhalten und eine weitere bauliche Verdichtung unterbinden. Das betrifft auch die gewerbliche Umnutzung, die überall sichtbar ist. Institute, Praxen und Firmen aller Art haben dort ihren Sitz, ebenso Alters- und Pflegeheime und andere soziale Einrichtungen. Auch beim Diplomatischen Corps ist der Stadtteil gefragt. Zahlreiche Botschaften und Residenzen von Botschaftern sind im Grunewaldviertel angesiedelt.

Inzwischen bin ich viel in Berlin. Bei gutem Wetter zieht es mich immer wieder an den Grunewaldsee, ein wunderbarer Ort für einen gemütlichen Spaziergang. Man umrundet ihn in weniger als einer Stunde und kann sich auch als ortsfremder Besucher nie verlaufen, denn der See liegt fast immer im Blick. Auf dem Weg dorthin fahre ich jedes Mal an den Villen vorbei und entdecke immer wieder neue Ecken. Das Villenviertel Grunewald ist wirklich ein ganz besonderer Ort.

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