Als Ende der 1980er Jahre der Dachboden eines Hamburger Altbaus ausgebaut werden soll, finden Bauarbeiter versteckt unter Bodendielen ein langes schmales Stoffbündel. Sie öffnen es, und zum Vorschein kommt eine Klarinette. Wer hat sie dort versteckt und warum? Niemand in dem sechsstöckigen Mehrfamilienhaus kann darüber Auskunft geben. Deshalb gerät der Fund langsam in Vergessenheit, bis Michael Batz von dem Vorfall hört. Der Schriftsteller, Dramaturg und Regisseur zeigt sich sofort interessiert. Eine versteckte Klarinette in dem einst von vielen Juden bewohnten Stadtteil? Batz hat sich in den vergangenen Jahren schon häufig mit dem Holocaust in Hamburg beschäftigt. Wer, wenn nicht er, könnte Licht in das Dunkel bringen? So macht er sich an die Arbeit, recherchiert jahrelang und bringt ein faszinierendes Buch heraus, das ich allen interessierten Lesern unbedingt empfehlen möchte.
Ich wohne seit vielen Jahren ganz in der Nähe jenes Hauses, in dem die Klarinette gefunden wurde. Nur eine Straße weiter, an der Universität Hamburg, habe ich studiert. Auf meinem Weg dorthin lief ich oft an dem Haus Rothenbaumchaussee No. 26 vorbei, allerdings ohne es genauer zu beachten, denn schmucklose rotbraune Klinkerfassaden sind in Hamburg häufig an Gebäuden aus den 1920er Jahren zu sehen, wenn auch nicht in diesem Viertel, wo die Bauherren einst weiße Villen bevorzugten. Damals löste der Bau des Hauses heftige Proteste aus. Die rotbraune Klinkerfassade gleiche solchen von Gefängnisbauten, Fabriken oder Kasernen und würde keineswegs in ihr nobles Viertel passen, empörten sich die Nachbarn. Ohne Erfolg. Denn rotbrauner Klinker lag damals im Trend. Zur selben Zeit entstanden im Hamburger Geschäftsviertel einige riesige Kontorhäuser, die ebenfalls mit solchen Fassaden versehen sind und heute zum UNESCO Welterbe gehören, darunter das berühmte Chilehaus.
Verwundert frage ich mich, wie es sein kann, bisher nichts von dem geschichtsträchtigen Gebäude gehört zu haben. Doch schon beim Lesen der ersten Seiten des Buches erfahre ich, dass auch die heutigen Bewohner nichts von der Geschichte des Hauses ahnten. Die Verfasser des Vorwortes waren fast zwanzig Jahre lang dort ansässig, ohne zu wissen, was es mit dem Haus ursprünglich auf sich hatte. Ihnen war nur bekannt, dass es die jüdischen Architektenbrüder Hans und Oskar Gerson entworfen hatten. „Ein einziges Haus als deutsche Geschichte“, lautet denn auch der letzte Satz in ihrem Vorwort und bringt es damit auf den Punkt.
Im Jahre 1921 gründen mehrere jüdische Investoren die „Wohnhaus Rothenbaum GmbH“. Sie kaufen ein Grundstück in erstklassiger Lage westlich der Außenalster, um es mit einem Großwohnhaus zu bebauen, das vor allem jüdischen Menschen als Alters- und Wohnsitz dienen soll. In direkter Nachbarschaft befinden sich die Universität und diverse andere Stätten von Bildung, Wissenschaft, Kultur und Sport. Das jüdisch geprägte Grindelviertel mit der Synagoge am Bornplatz und der Talmud Tora Schule ist fußläufig zu erreichen, ebenso Handwerksbetriebe und Geschäfte, die den täglichen Bedarf decken. Die Innenstadt liegt nicht weit entfernt, und in direkter Nähe befindet sich der Dammtor-Bahnhof mit Anschluss an den Nah- und Fernverkehr. Kaufleute, Beamte, Juristen und Ärzte haben sich in dem Viertel bereits niedergelassen. Das Straßenbild wird geprägt von herrschaftlichen Villen, noblen Mehrfamilienhäusern und vielem Grün.
Der geplante Neubau stößt auf reges Interesse. Die Möglichkeit, verkehrsgünstig und dennoch in repräsentativer, vornehmer Gegend wohnen zu können, gefällt vor allem älteren Herrschaften, die nicht mehr in einer individuellen Stadtvilla leben möchten. Das Besondere an diesem Projekt ist, dass die Investoren keine Wohnungen erwerben, sondern nur ein Wohnrecht. Das gesamte Haus bleibt im Besitz der Gesellschaft. Durch die Einzahlung eines festgelegten Betrages in das Stammkapital der Gesellschaft wird man zum Anteilseigner und verfügt damit über das Recht auf Nutzung einer Wohnung. Man zahlt fortan nur noch eine Nutzungsgebühr und beteiligt sich an den laufenden Kosten für Heizung, Warmwasser, Reparaturen usw. Das Wohnrecht kann vererbt und veräußert werden. Seit Fertigstellung des Gebäudes gilt es als das erste große Wohnbaugenossenschaftsprojekt der Stadt.
In den sechs Geschossen befinden sich zwölf Wohnungen mit jeweils etwa 240 Quadratmetern Fläche und ausgestattet mit diversen technischen Neuheiten wie Zentralheizung, Warmwasser und Aufzug im Treppenhaus. Der Initiator dieses Bauvorhabens, der jüdische Privatbankier Paul Levy, zieht als Erster mit seiner Familie ein. Er träumt davon, in diesem Haus ein aufgeklärtes gesellschaftlich assimiliertes Judentum leben zu können. Als sollte diesem Wunsch Ausdruck verliehen werden, wacht über der Haustür ein in Holz geschnitzter „Löwe von Juda“.
Nach den Levys ziehen weitere Bankiers, Kaufleute, Juristen und vier wohlhabende Witwen ein. Die Mehrheit der Anteilseigner hat wie Paul Levy jüdische Wurzeln, doch nicht alle Bewohner haben tatsächlich investiert. Die zu den Kreditgebern gehörende Warburg-Bank hat sich einige Wohnungen gesichert und entsprechend vermietet.
Das Buch erzählt die Geschichte des Hauses in Form einer Art Chronik, die mit dem Jahr 1922 beginnt und dem Geschehen in hundert Kapiteln bis 1948 folgt. Unfassbar detailliert wird über das Leben einzelner Bewohner berichtet. Mit detektivischer Kleinarbeit hat Michael Batz ein Maximum an Informationen zusammengetragen. Wer waren die Menschen, die dort lebten, woher kamen sie und was wurde aus ihnen? Dem Schicksal von fünfzig Personen spürte er nach in einer Zeitspanne von etwa fünfzig Jahren: Kaiserzeit, Weimarer Republik, Nazizeit und frühe Bundesrepublik. Die Erzählungen beginnen oft lange vor dem Einzug in das Haus und enden meist nicht mit dem Auszug. Da ist zum Beispiel der Kaufmann Harry Meyer, Konsul von Bolivien. Er zieht mit seiner Frau Gretchen in eine der beiden Parterrewohnungen. 1868 wurde er in Berne im Oldenburger Land geboren, als Sohn eines jüdischen Schlachtermeisters, der ihn Herri nannte. Nach einer Lehre im Konfektionsgeschäft wagt Herri sich hinaus in die weite Welt, nach Argentinien. Buenos Aires ist damals die modernste Stadt Südamerikas. Was Argentinien europäischen Auswanderern damals an Möglichkeiten und Chancen zu bieten hat – es steht alles kurz umrissen in diesem Buch. Die oft ausufernde Fülle an Informationen zu Zeitgeschichte und Lebensumständen macht das Lesen überaus interessant. Nach jedem ausführlichen Exkurs findet Batz zurück zu jener Person, um die es gerade geht, wie in diesem Fall um Herri, dem jüdischen Schlachterssohn aus norddeutscher Provinz, der in Südamerika zum weltgewandten wohlhabenden Geschäftsmann Harry wird und sich 1923 in der Rothenbaumchaussee No. 26 niederlässt. Zwei Stockwerke über ihm wohnt die Französin Marie-Angèle Campe, die einst mit dem Sohn des Heinrich-Heine-Verlegers Julius Campe verheiratet war. Ihr Mann hatte es mit der ehelichen Treue nicht sonderlich ernst genommen und war bekannt für seine Affären mit Damen von zweifelhaftem Ruf. Die Ehe wurde 1881 nach einem erbitterten Scheidungskrieg beendet. Nach dem Tod ihres geschiedenen Mannes im Jahre 1909 führte sie lange Prozesse um das Erbe zu Gunsten ihrer gemeinsamen Töchter. Als sie von dem Bauprojekt des Paul Levy hört, schließt sie sich dem Vorhaben an und zieht als Anteilseignerin in das Haus. Ganz oben im Dachgeschoss befindet sich das Atelier des jüdischen Künstlers Willy Davidson. Als Gründungsmitglied gehört er der Künstlergruppe „Hamburger Sezession“ an. Zur Faschingszeit werden im gegenüberliegenden Curio-Haus mehrtägige rauschende Künstlerfeste veranstaltet. Der erfahrene Kostüm- und Bühnenbildner, Maler und Designer Davidson unterstützt sie mit phantasievollen Raumgestaltungen. Wenn dann morgens um vier Uhr die Polizeistunde beginnt, geht für manche die Feier in Davidsons Atelier weiter. Einmal wird ein Gruppenfoto gemacht. Mit von der Partie sind die Kinder von Thomas Mann, Klaus und Erika, und der Schauspieler Gustaf Gründgens.
Die biografischen Ausführungen zu einzelnen Bewohnern werden oft ergänzt durch die Schilderung von Alltagsereignissen, die mit dem Haus zwar unmittelbar nichts zu tun haben, aber dennoch Stimmungsbilder vermitteln. An einer Stelle heißt es: „Es ist die Zeit, in der die Damen weiterhin knöchellange, fließende Mäntel mit breitem Revers … tragen“. Alte Höflichkeitsformen hätten 1923 noch Bestand, ebenso althergebrachte Arbeitsverhältnisse. Doch die Stadt ist im Wandel, eine neue Zeit bricht an. Viele neue Läden öffnen, Fahrrad- und Autoverkehr nehmen zu. Eine Untergrundbahn wird gebaut. Die damit verbundenen gewaltigen Erdarbeiten sorgen für viel Ärger. Politische Massenveranstaltungen finden in der Nähe statt. Michael Batz nennt diese Schilderungen Nebenbei-Geschichten. In den Beiläufigkeiten würden sich manchmal die wirklichen Vorgänge verbergen. In dem jüdisch geprägten Grindelviertel und im benachbarten Eppendorf gibt es seit Ende der 1920er Jahre SA-Sturmlokale, vor denen gelegentlich Männer in braunen Hemden und mit Lederriemen herumstehen und sich herausfordernd umschauen. Jüdische Schulkinder machen sich dann lieber schnell davon. Der braune Terror beginnt. Der jüdische Hausmakler Henry Cohn kommt zu einem Termin in die Rothenbaumchaussee No. 26 und sieht beim Verlassen des Hauses eine Gruppe braungekleideter BDM-Mädchen auf sich zukommen. Intuitiv wechselt er die Straßenseite.
Am 30. Januar 1933 wird Adolf Hitler durch Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Schon in den folgenden Tagen wird der Reichstag aufgelöst und damit die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik abgeschafft, die Grundrechte werden aufgehoben und die Versammlungs- und Pressefreiheit weitgehend eingeschränkt. „Heil Hitler“, tönt es von nahegelegenen Massenveranstaltungen über Lautsprecher zum Haus in der Rothenbaumchaussee No. 26 herüber.
Dort machen sich die jüdischen Bewohner allmählich Sorgen. Als im April ein Gesetz ergeht, das einem Berufsverbot für jüdische Rechtsanwälte gleichkommt, zieht man im Haus Konsequenzen. Die ersten Juristen verlassen das Land. Doch nicht nur sie. Paul Levy, der Initiator des Bauprojektes, verstarb bereits 1929 im Alter von 52 Jahren. Vier Jahre später steht seine Tochter in der Schule vor ihrem Tisch, auf den ein großes Hakenkreuz gemalt wurde. Ihre Mutter, die Witwe Anna Levy, verlässt daraufhin mit ihren Kindern das Haus, findet in der Nachbarschaft Unterschlupf und bereitet ihren Umzug in die USA vor. Mit welchen Kosten und Hürden dies verbunden ist und was sie mitnehmen darf – alles das wird aufgelistet. Zwei Brüder des Paul Levy bleiben im Land und werden später nach Minsk in ein Vernichtungslager deportiert, wo sie umkommen.
Der erfolgreiche jüdische Röntgenarzt Dr. Henri Hirsch wohnt seit 1927 in dem Haus. Im April 1934 soll er auf Einladung von Prof. Dr. Ferdinand Sauerbruch von der Berliner Charité an einem internationalen Internisten-Kongress teilnehmen, um seine aufsehenerregenden Erkenntnisse zur Krebsforschung vorzustellen. Einen Tag vorher ruft ihn der berühmte Professor an und fordert ihn auf, das Land augenblicklich zu verlassen. Die neue politische Führung würde jüdischen Wissenschaftlern keine Erfolge zubilligen. Man sei dabei, Hirsch in ein Irrenhaus zu stecken. Henri Hirsch und seine Frau verlassen noch am Abend des Anrufes das Land und reisen nach Genua. Am nächsten Morgen steht die Staatspolizei vor der Wohnungstür und will ihn abholen. Einer der in Hamburg verbliebenen Söhne berichtet den Eltern in ausführlichen Briefen, wie sich die Situation in dem Haus verändert. Für alle jüdischen Bewohner ist es inzwischen keine Frage mehr, ob man Deutschland verlässt, sondern wohin man gehen kann und wann. In die freiwerdenden Wohnungen ziehen derweil nichtjüdische Personen ein, unter ihnen einige Parteigrößen, denen beim Betreten des Hauses nicht das Symbol des israelitischen Stammes Juda auffällt, der Löwe von Juda.
Schon 1940 ist in der Hausgemeinschaft nur noch ein einziger jüdischer Bewohner übriggeblieben: der ehemals selbstständige Außenhandelskaufmann Richard Behr. Da er mit einer britischen Nichtjüdin verheiratet ist, kann er mit ihr in dem Haus wohnen bleiben. Doch als er es einmal wagt, das Haus zu verlassen und über die Straße zu gehen, wird er erkannt und sofort verhaftet. Völlig traumatisiert überlebt er Krieg und Verfolgung.
Oft liest sich das Buch spannend wie ein Roman, aber es ist eben auch 560 Seiten stark und deshalb schlage ich oft in dem ausführlichen Personenregister nach, um rasch zu erfahren, ob jemand überlebt hat und welches weitere Schicksal der Person beschieden war.
Am Ende des Buches folgt ein langes und sehr informatives Interview, das der Verleger Robert Galitz mit Michael Batz zu seiner phantastischen Recherchearbeit geführt hat. Mit welchen Schwierigkeiten hatte er zu kämpfen, welche bürokratischen Hürden musste er überwinden, wie viele Zufälle spielten ihm Informationen zu und wer unterstützte bzw. behinderte ihn bei seinen Recherchen. Unglaublich ist die Menge an Material, die er durchgearbeitet hat, u.a. Firmenchroniken, alte Adressbücher, Archive, historische Zeitungen, er hat Interviews mit Nachfahren und Zeitzeugen geführt und Zugang zu privatem Briefverkehr bekommen.
So fand er auch heraus, dass die Klarinette, die alles ausgelöst hatte, aus einer bekannten amerikanischen Manufaktur stammt und dass es sich um eine Spezialanfertigung handelt, wie sie typischerweise für Jazz und aschkenasische Klezmer-Musik gespielt wird. Sie wurde mit einer Seriennummer versehen, die es leicht machen müsste, den Namen des Käufers zu ermitteln, wenn nicht sämtliche Unterlagen durch einen Brand vernichtet worden wären. Die Manufaktur gibt es schon seit 1930 nicht mehr.
Das Buch beantwortet viele Fragen. Nur die wichtigste nicht: Wem gehörte die Klarinette und warum versteckte man sie unter Dielen auf dem Dachboden? Aber wer weiß, vielleicht lüftet Michael Batz irgendwann auch noch dieses letzte Geheimnis. Zuzutrauen wäre es ihm.
2 Kommentare
Welch eine bewegene Geschichte! Ein interessantes Buch! Danke dass Du das Buch für uns gelesen hast! Ulrike
Wie großartig, dass es Menschen gibt, die so sorgfältig recherchieren und so vielfältige spannende Informationen zusammentragen! Danke liebe Petra, dass du uns teilhaben läßt an diesem Werk! Elisabeth