Das schwierige schöne Leben – Ein deutscher Kaufmann in Shanghai 1906 bis 1952

Der Ort für die Lesung hätte nicht besser gewählt sein können. Sie fand in einem Club in der Nähe der Landungsbrücken im Hamburger Hafen statt. Hier, am Ufer der Elbe, begann für die alte Hansestadt einst der Handel mit Ländern in Übersee. Und um Handel sollte es auch an jenem Abend im September letzten Jahres gehen, um den Chinahandel. Christine Maiwald, promovierte Literaturwissenschaftlerin, stellte mit ihrem Buch einen erfolgreichen Geschäftsmann vor, der fast 50 Jahre in China gelebt hatte: Hermann W. Breuer (1884-1973). Er ist ihr Großonkel. Schon als junges Mädchen hatte er sie beeindruckt. Weltgewandt, großzügig und humorvoll war er gewesen, verehrt in seiner Familie und geschätzt von Freunden, Kollegen und vielen anderen, die mit ihm zu tun hatten. Er hatte für seine Verdienste sogar das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland erhalten. So weit, so gut. Ein spannendes Thema oder eher doch nicht? Mit einem signierten Buch fuhr ich nach Hause und legte es zunächst auf den Stapel ungelesener Bücher. Erst ein halbes Jahr später nahm ich es erneut zur Hand – und konnte nicht mehr aufhören zu lesen.

Hermann Breuer war längst verstorben, als Christine Maiwald in alten Familienkorrespondenzen liest und sich langsam fragt: „Was hatte ihn zu dem gemacht, den ich kennenlernte? Was hatte er erlebt?“ Die private Korrespondenz gibt zum Zeitgeschehen nicht allzu viel her. Und doch war er ein Augenzeuge der dramatischen politischen Umwälzungen gewesen, die China in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschütterten. Der Sturz der letzten Kaiserdynastie Qing im Jahre 1911 und die Gründung der Republik, der Erste Weltkrieg, die Invasion der Japaner und ihre Herrschaft über weite Teile des Landes, der Zweite Weltkrieg, der Bürgerkrieg und die Gründung der Volksrepublik China 1949. Mit bewundernswerter Akribie begibt sich Christine Maiwald auf Spurensuche, um Breuers Leben und das Zeitgeschehen aufzuzeichnen. Sie durchforstet Zeitungs-, Firmen- und Staatsarchive, spürt im In- und Ausland Menschen auf, die ihn kannten, trifft Nachfahren von Freunden und Kollegen, liest in Tage- und Gästebüchern sowie in privaten und geschäftlichen Korrespondenzen, die ihr bereitwillig zur Verfügung gestellt werden. Sie bereist Orte in China, an denen Breuer gelebt und gewirkt hat und studiert die einschlägige wissenschaftliche Literatur zur Zeitgeschichte und den deutsch-chinesischen Beziehungen. Zehn Jahre verbringt sie mit Recherche und Niederschrift und herausgekommen ist ein fulminantes Werk von 670 Seiten, das weit über die ursprünglich angestrebte Biografie eines einzelnen China-Kaufmannes hinausgeht. Es ist ein spannendes Geschichtsbuch, spannend deshalb, weil es das persönliche Schicksal Breuers und auch das vieler anderer China-Deutschen mit dem Zeitgeschehen verknüpft und der Leser mitfiebert, wenn es am Ende um den Verlust der fremden Heimat geht. Dieses Buch zu lesen, ist eigentlich ein Muss für jeden, der sich für China und die deutsch-chinesischen Beziehungen interessiert.

Christine Maiwald: Das schwierige schöne Leben. Ein deutscher Kaufmann in Shanghai 1906 bis 1952. Hamburg, München: Dölling und Galitz Verlag 2021. ISBN 978-3-86218-147-6, EUR 29,90.

Hermann Breuer kommt im Juli 1906 nach sechs Wochen Schiffsreise in Shanghai an. Er ist 22 Jahre alt, ein gutaussehender junger Mann, sportbegeistert, unternehmungslustig und aufgeschlossen. Das Leben im Ausland ist ihm nicht fremd. In Bangkok geboren zog er mit der Familie schon kurz darauf nach Sumatra, wo der Vater im Tabakanbau tätig war. Im Alter von sechs Jahren schickten ihn die Eltern zur Schul- und Berufsausbildung zu Verwandten nach Hannover. Nach Mittlerer Reife, kaufmännischer Lehre und Militärdienst kehrt er nach Asien zurück. Die uns heute so vertrauten modernen Kommunikations- und Verkehrsmittel gibt es damals noch nicht. In den vergangenen sechzehn Jahren hat er seine Eltern weder gesehen noch gesprochen. Auf seinem Weg nach China trifft er sie für einen Tag, als sein Schiff in Penang, Malaysia, anlegt.

Hermann Breuer reist im Auftrag des erfolgreichen Bremer Kaufmanns Hermann Melchers, seinem Patenonkel. Die Firma C. Melchers & Co gehört zu den ersten und erfolgreichsten deutschen Handelshäusern in China. In seiner Tasche hat Breuer einen Vierjahresvertrag mit der Aussicht auf eine Verlängerung um mindestens drei Jahre und einen ersten Heimatbesuch nach insgesamt sieben Jahren. Im Gegenzug hat er versprochen, in diesen ersten sieben Jahren nicht zu heiraten, was eine gängige Bedingung ist, wenn Firmen junge Nachwuchskräfte in ihre Niederlassungen schicken. Was erwartet ihn also in Shanghai?

Die Autorin geht zunächst auf den historischen Hintergrund ein, auf die Opiumkriege, mit denen Mitte des 19. Jahrhunderts die Engländer und später auch weitere europäische Staaten mit Waffengewalt den Zugang zum chinesischen Markt erzwingen, das Land in Einflusszonen unter sich aufteilen und halbkoloniale Verhältnisse schaffen. Sie berichtet von den europäischen Strafexpeditionen gegen jeglichen chinesischen Widerstand und von der berüchtigten Rede, mit der Kaiser Wilhelm II. sechs Jahre zuvor die deutschen Truppen vor ihrer Abreise nach China verabschiedete: „Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht.“

Die Welt des europäischen Kolonialismus neigt sich seinem Ende zu. Doch in China leben die Deutschen und viele andere westliche Ausländer noch immer in dem Bewusstsein, einer privilegierten Klasse anzugehören. Die Chinesen werden in ihrem eigenen Land als Menschen zweiter Klasse betrachtet. Man stellt sie als Mitarbeiter und Dienstboten ein.

Breuer wird nach seiner Ankunft in Shanghai von den deutschen Kollegen zunächst mit dem gesellschaftlichen Leben vertraut gemacht, das sich vor allem in Clubs und Vereinen abspielt. Jede Nation hat ihren eigenen Club, doch lädt man sich auch gegenseitig ein, um mehr Internationalität zu pflegen. Chinesen sind als Besucher geduldet, als Mitglieder jedoch unerwünscht. Die Deutschen haben ihren Club Concordia, einen Ruder-, Reiter- und Theaterverein und noch einige mehr. Tennis wird gern im exklusiven Gartenclub gespielt, der über zehn Tennisplätze verfügt. Manche Clubs sind günstig, andere teuer. Breuer begreift schnell, dass das Leben in Shanghai kostspielig sein kann, zumal für jeden Anlass auch immer eine entsprechende Garderobe gebraucht wird.

Pferderennbahn mit Foreign YMCA (erbaut 1926) und Pacific Hotel (erbaut 1924) im Hintergrund ©Christine Maiwald

Doch zunächst gilt es, sich mit den vielfältigen Geschäftsbereichen der Firma Melchers vertraut zu machen. Unter anderem vertritt sie in China deutsche Hersteller von Farben, Chemikalien und Maschinen, sie importiert für den chinesischen Markt Güter wie Papier, Eisen, Metalle oder Kohle aus Europa und den USA, exportiert Rohprodukte wie Felle, Tabak, Rhabarber und Öle. Ein wichtiger Geschäftszweig sind auch Versicherungs- und Schiffsgeschäfte. Die Liste lässt sich noch beliebig fortführen, aber als wäre dies alles nicht genug, müssen auch die chinesischen Maße und Gewichte studiert werden, ebenso das komplizierte chinesische Währungssystem.

Nach sieben Jahren bekommt Breuer zum ersten Mal Heimaturlaub und heiratet bei dieser Gelegenheit Erna, eine Hamburgerin, die er zuvor in Shanghai kennengelernt hatte. Sie folgt ihm nach Shanghai, wo es sich in der deutschen Gemeinde gut leben lässt. Auch sind die Kontakte zu Mitgliedern anderer Nationen vielfältig. Man ist befreundet und hält geschäftliche Kontakte. Doch dann beginnt im August 1914 der Erste Weltkrieg und damit verändert sich alles. Aus Freunden werden Feinde. Die Deutschen werden gemieden und aus den internationalen Clubs ausgeschlossen. Man macht auch keine Geschäfte mehr mit ihnen. In dieser Zeit erkennt Breuer, wie wichtig Kontakte zu chinesischen Geschäftspartnern sind. Er beginnt ein intensives Studium der chinesischen Sprache. Inzwischen erobern die Japaner das deutsche Pachtgebiet Jiaozhou auf der Halbinsel Shandong. Etwa 4700 deutsche Männer, die zur Verteidigung aus ganz Ostasien zusammengezogen worden waren, geraten für fünf Jahre in japanische Gefangenschaft.

1917 erklärt China auf Drängen westlicher Staaten Deutschland den Krieg. Anlass für die Chinesen ist unter anderem die Hoffnung, nach Kriegsende im Rahmen von Friedensverhandlungen das deutsche Pachtgebiet zurückzubekommen, auch wenn es inzwischen von Japan besetzt wurde. Die Kriegserklärung verschlechtert die Lage der China-Deutschen. Ihre Konten werden gesperrt, ihre Firmen müssen schließen. Ein Jahr später, nach Kriegsende, üben die Engländer erheblichen Druck auf die chinesischen Behörden aus, um die Deutschen des Landes zu verweisen. Für die Deutschen bedeutet das den bitteren Verlust von all dem, was sie in langen Jahren aufgebaut haben, für die Engländer vermutlich nur, unangenehme Konkurrenz loszuwerden. Breuer gehört zu den wenigen, die bleiben dürfen, denn seine Frau ist schwanger und kann die strapaziöse Schiffsreise nicht antreten.

Doch schon bald erkennen die Chinesen, dass sie sich falsche Hoffnungen gemacht haben. Während der Versailler Friedensverhandlungen wird auf sie keine Rücksicht genommen. Die Alliierten gestehen das ehemalige deutsche Pachtgebiet Jiaozhou den Japanern zu. Dies löst in China größte Empörung aus und verändert die Haltung gegenüber den Deutschen. Künftig sind sie willkommene Handelspartner. Eine neue Phase deutsch-chinesischen Handels beginnt. Breuer wird Leiter der Importabteilung in Shanghai und ist zuständig für ganz Nordchina. 1929 steht er auf der Höhe seines Erfolges.

Abreise in den Heimaturlaub, November 1929, © Ingeborg Schmidt-Ehrenberg, Fotografie Kurt Halla.

Dann ziehen erneut dunkle Wolken auf. Die Japaner streben ein Großostasien unter ihrer Vorherrschaft an und setzen ihre Eroberungen in China fort. Zur selben Zeit erfolgt in Deutschland der Aufstieg der Nationalsozialisten. 1932 wird in Shanghai eine Ortsgruppe der NSDAP gegründet. Nach den neuen Rassengesetzen gilt Breuer als Mischling ersten Grades. Seine Mutter war Jüdin gewesen. Das muss unbedingt geheim gehalten werden. Doch es gibt Leute, die davon wissen.

Es folgen Zweiter Weltkrieg, Bomben auf Shanghai, abgeworfen mal von den Japanern, mal von den Amerikanern. Nach der deutschen Kapitulation und den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki haben nun die Amerikaner das Sagen. Sie unterstellen allen China-Deutschen, mit den Nationalsozialisten zusammengearbeitet oder zumindest sympathisiert zu haben und wollen dafür sorgen, dass möglichst alle das Land verlassen. Wie andere deutsche Firmen wird auch die Firma Melchers & Co liquidiert. Breuer gelingt es daraufhin, als Berater für eine chinesische Firma tätig zu werden.

Trotz Ende des Zweiten Weltkriegs kehrt in China kein Frieden ein. Vier Jahre brutaler Bürgerkrieg folgen, in denen die Amerikaner kräftig mitmischen, aber die Kommunisten schließlich siegen und 1949 die Volksrepublik China gründen. Nach hundert Jahren sind ausländische Einflussnahme und Herrschaft auf chinesischem Boden endlich vorbei. Die chinesische Bevölkerung feiert ihre Befreiung. Wer von den Ausländern darf nun noch bleiben und wer von den Chinesen entscheidet sich nach dem Systemwechsel für ein Leben im Ausland?

1949 wählt die Deutsche Gemeinde Hermann Breuer zu ihrem Vorsitzenden. Seine wichtigste Aufgabe besteht nun darin, die Rückführung der Deutschen in die Bundesrepublik zu organisieren. Er selbst verlässt China erst 1952 und lebt fortan in Bremen. Dort wird er für das Bundesausgleichsamt tätig, wo Anträge auf Lastenausgleich für die Vertriebenen aus außereuropäischen Gebieten bearbeitet werden. Nur noch einmal kehrt er nach Asien zurück, 1959 besucht er Japan und Hongkong. China bleibt jedoch weiterhin in seinem Blick, vor allem nachdem er 1954 zum Ersten Vorsitzenden des Ostasiatischen Verein Bremen gewählt wird, ein Amt, das er bis kurz vor seinem Tod im Jahre 1973 ausübt.

Ich weiß, die Rezension ist ein bisschen zu lang geraten. Betrachten Sie es als Zeichen meiner Begeisterung für dieses Buch. Der bekannte Sinologe Professor Wolfgang Franke riet uns Studenten einmal: „Lesen Sie Biografien, wenn Sie China verstehen wollen.“ Wie recht er hatte!

Der “Bund” in Shanghai, © Christine Maiwald

 

1 Kommentar
  1. Liebe Petra,
    Deine Rezension ist sooo spannend und macht mich neugierig auf das Buch. Du als echte Chinakennerin hast Dich sicherlich in vielen Momenten wieder gefunden. LG Ghita

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