André Rieu – Maastricht, im Juli 2022

Bisher hatte ich noch keins seiner Konzerte besucht, und wahrscheinlich wäre es auch dabei geblieben, hätte ich nicht im September 2021 André Rieu als Gast in einer Talkshow gesehen. Wie er die Zeit der Pandemie verbringen würde, fragte man ihn. Seit siebzehn Monaten waren coronabedingt keine Konzerte mehr veranstaltet worden. Wie übersteht das ein Mann, der normalerweise mit seinem sechzigköpfigen Johann Strauss Orchester plus Crew um die Welt tourt und etwa hundert Konzerte pro Jahr gibt? Er sei zu Hause geblieben, erwiderte er, hätte sich selbst Spanisch beigebracht mit der Lektüre der Comicbuch-Reihe Tim & Struppi, und ansonsten würde er Torten backen. Viele Torten. Für seine gesamte Maastrichter Nachbarschaft.

Es folgten Filmausschnitte von seinen legendären Sommerkonzerten, die er jedes Jahr in seiner Heimatstadt Maastricht veranstaltet, unter freiem Himmel auf einem Platz mitten in der Altstadt, mit dreizehntausend Zuschauern aus unterschiedlichsten Nationen. Eine Riesenshow mit Volksfeststimmung. Wo denn sein liebstes Publikum herkäme, fragte man ihn zum Schluss. Aus Hamburg, antwortete er prompt. Na ja, das ist ja nun wenig verwunderlich, dachte ich, denn schließlich saß er in einem Hamburger Studio. Und wenn er nun in Brasilien unterwegs wäre, fragte der Moderator, was würde er dann antworten? André Rieu überlegte nicht lange: Wahrscheinlich würde ich Rio de Janeiro nennen. Ehrlich geantwortet, dachte ich, und fand den Mann irgendwie sympathisch.

Zufällig hatte auch meine Schwester diese Talkshow gesehen. Ob wir uns im nächsten Juli nicht mal ein solches Konzert in Maastricht ansehen sollten, fragte sie und kümmerte sich auch gleich um die Buchung, nachdem ich zugestimmt hatte. So weit im Voraus plane ich eigentlich ungern, doch zu meiner Überraschung waren die organisierten Busreisen dorthin bereits nahezu ausgebucht, jedenfalls wenn man in Maastricht übernachten wollte. Es gab jedoch noch freie Plätze für Gruppenreisen mit Übernachtung im nahegelegenen Aachen. Das fand ich zwar schade, denn Maastricht hätte ich mir gern genauer angeschaut, aber wir buchten die Reise trotzdem. Fast zehn Monate später, das heißt vor wenigen Tagen, fand sie endlich statt.

In aller Frühe geht es für uns ganz entspannt in Hamburg los, und nach gemütlicher Fahrt und einigen Pausen treffen wir gegen drei Uhr nachmittags im – wie ich vermute – langweiligen Aachen ein.

Aachen – unbedingt eine Reise wert

Was weiß ich überhaupt über diese Stadt? Vor einer halben Ewigkeit habe ich sie einmal kurz besucht. Natürlich! Von der RWTH, der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule, habe ich schon oft gehört. Sie ist weltweit bekannt und eine der besten ihrer Art. Auch der Internationale Karlspreis ist mir ein Begriff, ebenso der berühmte Dom, auch wenn ich ihn noch nie besucht habe. Aber sonst?

Nach anderthalb Stunden Stadtführung bin ich schlauer. Aachen, die Stadt der heißen Quellen, war einst ein mondäner Kurort gewesen. Davon habe ich bisher nichts gewusst. Schwefelhaltig und mit bis zu 73°C gelten die Quellen als die heißesten Mitteleuropas. Schon die Kelten und Römer schätzten und nutzten sie, wie archäologische Funde belegen. Kaiser, Könige und Zaren, Kardinäle, Kaufleute und Künstler, wer Rang und Namen hatte kam hierher und suchte Linderung bei verschiedensten Krankheiten. Und dies seit mehr als zweitausend Jahren.

Der Elisenbrunnen, eine offene Wandelhalle, 1822 nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel errichtet, © Petra Häring-Kuan
Das Quellwasser erreicht hier eine Temperatur von etwa 53°C, © Petra Häring-Kuan

Das historische Rathaus und das Museum Centre Charlemagne: bei beiden dreht sich alles um Karl den Großen (ca. 747 – 814), der Aachen zum Zentrum seines Fränkischen Reiches machte.

Karl der Große, © Petra Häring-Kuan

Nach seiner Heiligsprechung im Jahre 1165 wurde die Stadt zu einem der bedeutendsten  Wallfahrtsorte Europas. Der Dom, die Begräbnisstätte Karls des Großen, birgt einen wahren Schatz an Reliquien, der seit Jahrhunderten Pilger aus der ganzen Welt anzieht. Die berühmten Aachener Printen waren ursprünglich als Wegzehrung für Pilger gedacht. Heute ist Aachen ein Zentrum der Süßwarenindustrie.

Einer von vielen Läden in der Altstadt, in denen die berühmten Aachener Printen verkauft werden. © Petra Häring-Kuan
Mädchenskulptur mit einem „Öcher Prent“, wie die Printen im Aachener Platt genannt werden, © Petra Häring-Kuan

Die Stadtführung endet vor dem Dom, so dass wir genug Zeit haben, ihn uns in aller Ruhe anzuschauen. Mir fällt dazu nur ein Wort ein: überwältigend!

Der Aachener Dom ist Ziel tausender Pilger aus aller Welt, © Petra Häring-Kuan

Der Dom ist das Wahrzeichen Aachens und seit 1978 erstes deutsches Monument auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes. Um das Jahr 800 ließ Karl der Große hier nach byzantinischen Vorbildern eine Pfalzkapelle errichten und weihte sie der Gottesmutter Maria.

Das Zentrum bilden ein sechzehneckiger Kapellenbau und das berühmte innenliegende Oktogon, ein achteckiger Mittelraum mit einem riesigen Kuppelgewölbe.

Das Oktogon, Zentrum des Doms. Der Radleuchter wurde von Friedrich I. Barbarossa gestiftet(1122-1190).© Petra Häring-Kuan
Die Kuppel des Oktogons © Petra Häring-Kuan

In den folgenden Jahrhunderten wurde die Kirche durch etliche An- und Umbauten ergänzt, etwa durch die gotische Chorhalle, in der sich heute der goldene Marien- und der Karlsschrein befinden.

Gotische Chorhalle © Petra Häring-Kuan

Der Marmorthron im ersten Stock diente Karl dem Großen wohl als Sitzplatz während der Gottesdienste. Später wurde er zum Krönungssitz. Sechshundert Jahre lang krönte man in Aachen die deutsch-römischen Könige, insgesamt dreißig. Der erste war Karls Sohn, Ludwig der Fromme, der 813, noch zu Leibzeiten seines Vaters, zum Vize-Kaiser gekrönt wurde. Der letzte war Ferdinand I. im Jahre 1531.

Als sich der Tag seinem Ende neigt, erlebe ich wie jung Aachen ist. Allein an der RWTH studieren mehr als 47 000 junge Menschen. Überall, auf Straßen und Plätzen, auf den Terrassen von Restaurants und Kneipen, herrscht an diesem milden Sommerabend fröhliches Treiben. Eine wunderbar entspannte Atmosphäre.

André Rieu in Maastricht

Am nächsten Tag folgt dann das große Ereignis. Zu Tausenden strömen die Besucher in die Stadt, die Altstadt scheint völlig aus dem Häuschen. Ständig treffen volle Busse ein, aus Deutschland, Belgien, Dänemark, und fahren wenige Minuten später leer wieder ab. Ich frage den örtlichen Begleiter, was denn die Maastrichter von diesem ganzen Theater hielten. Er winkt nur gelassen ab: Wir sind schon daran gewöhnt, dass Maastricht drei Wochen im Sommer André Rieu gehört.

Ganz offensichtlich sind Rieus Veranstaltungen für die Stadt ein bedeutender wirtschaftlicher Faktor. Hochbetrieb in allen Restaurants, Bistros und Bars sowie ausgebuchte Hotels. Eigentlich müsste die Stadt angesichts dieses Ansturms in Stress und Chaos versinken. Aber nein! Es geht gemütlich zu, denn die vielen Besucher sind in bester Stimmung und voller Vorfreude auf die nahende Veranstaltung. André Rieu sorgt schon im Voraus für gute Laune.

Rings um den Vrijthof-Platz kündigen Plakate André Rieu an © Petra Häring-Kuan

Der breite Vrijthof-Platz, Veranstaltungsort des Konzertes, ist benannt nach einem Friedhof aus römischer und fränkischer Zeit. Hier führte einst eine wichtige römische Verkehrsader entlang, die Verbindung zwischen Nordfrankreich und Köln.

Der Platz wird von vier Straßen eingefasst, an denen in diesen Tagen die Gastronomie das Ruder übernommen hat. Überall stehen lange Tische, vollbesetzt mit fein gekleideten Menschen, die es sich bei Speis und Trank gutgehen lassen.

Terrassenarrangements am Vrijthof-Platz © Petra Häring-Kuan

Wer hier sitzt, hat ein sogenanntes Terrassenarrangement gebucht. Man kann den ganzen Abend dort verbringen bei einem – üblicherweise – 3-Gänge-Menü und Getränken. An manchen Tischen hat man die Konzertbühne im Blick, an anderen schaut man auf Videoleinwände. Zu hören ist die Musik sowieso überall.

André Rieu, Maastricht 2022 © Petra Häring-Kuan
Essen und genießen mit Blick auf die Bühne © Petra Häring-Kuan

Um 21 Uhr soll es losgehen, aber schon gegen 20 Uhr füllen sich die Zuschauerreihen. Spielmannszug und Blaskapelle umrunden mit lauter Marschmusik den Platz, verweilen vor dem einen oder anderen Restaurant und ziehen dann quer über den Konzertplatz an der Bühne vorbei.

Die Reihen füllen sich. Eine Blaskapelle marschiert an der Bühne vorbei. © Petra Häring-Kuan

Die Vorfreude und Anspannung im Publikum wächst. Wer schon einmal hier war oder die Maastricht-Konzerte aus dem Fernsehen kennt, ist mit den Ritualen vertraut, so auch eine etwa achtzigjährige fein herausgeputzte Berlinerin, die in der Reihe vor mir fleißig ankündigt, was wohl gleich passieren wird. Auch hat sie sich in kürzester Zeit mit mehreren feschen Holländern angefreundet. So sind sie, die Berliner, kommen mit allen schnell ins Gespräch.

Punkt 21 Uhr geht es los. Auf den Videoleinwänden verfolgen wir, wie die Musiker, angeführt von André Rieu, an den Restaurantterrassen vorbeilaufen. Dann betreten sie das Konzertgelände und gleich darauf geht es hinauf auf die Bühne. Stürmischer Applaus, die ersten Melodien erklingen.

Das Orchester betritt die Bühne © Petra Häring-Kuan

Ein Konzertprogramm zur Orientierung gibt es nicht. Stattdessen kündigt André Rieu jedes Stück einzeln an. Zuallererst bringt er seine große Freude zum Ausdruck, endlich wieder vor Publikum spielen zu dürfen. Nach den vielen Monaten der Pandemie und der Lockdowns nun wieder Musik gemeinsam erleben zu können, das ist für alle ein großer Moment. So wie er sich als Dirigent auch immer wieder seinem Publikum zuwendet, steht er mit den Menschen in Kontakt. Er spricht zu und mit ihnen, erzählt Fröhliches und Besinnliches.

André Rieu spricht zu seinem Publikum © Petra Häring-Kuan

Auf die Frage nach den Herkunftsländern überrascht es mich nicht, dass so viele Leute aus Deutschland angereist sind, aber erstaunlich finde ich schon eher, wie viele Dänen ihre Arme hochstrecken und begeistert Fähnchen schwenken, als er ihr Land aufruft. Auch die Niederländer sind stark vertreten. Hier ruft er die einzelnen Provinzen auf. Maastrichter sind nur wenige dabei. Aber die hören das Konzert in der Nachbarschaft ja sowieso mit.

Ich muss zugeben, dass ich nicht viel über Programm und Ablauf seiner Konzerte wusste. Einen Abend voller Walzermusik habe ich erwartet. Wird Rieu nicht auch Walzerkönig genannt? Umso überraschter bin ich, dass eine Mischung aus Oper und Operette, Musical und Filmmusik, Jazz und Rock geboten wird. Farbenprächtige, je nach Musik wechselnde Kulissen, Inszenierungen wie ein riesiger Fackelzug, der an den Zuschauerreihen vorbeizieht, Sänger mehrerer Chöre, die auf der Bühne ihren Platz einnehmen.

Mehrere Männerchöre bilden einen Fackelzug © Petra Häring-Kuan

Carmina Burana von Carl Orff erklingt. Berühmte Arien von Sängern und Sängerinnen aus Ländern wie Ungarn, Tasmanien oder den USA werden vorgetragen. Eine Ukrainerin wendet sich hingebungsvoll mit einem Lied an die Menschen in ihrer Heimat.

André Rieu, Maastricht 2022, © Petra Häring-Kuan

Für jeden Musikgeschmack ist etwas dabei. Einzigartig jedoch ist die Stimmung im Publikum. Erklärtes Ziel André Rieus ist es, die Menschen mit Musik glücklich zu machen. Er hasst die ernste Atmosphäre der Konzertsäle, setzt stattdessen auf Emotionen und freut sich, wenn das Publikum mitsingt, summt, schunkelt, klatscht und – wenn dann endlich mal ein Walzer erklingt – auch tanzt. Handys werden hochgehalten, Fotos und Videomitschnitte gemacht und  – wie in meiner Nachbarschaft – gleich nach Deutschland geschickt. Entsprechend treffen Rückmeldungen ein. Hier und da klingelt ein Telefon oder macht durch ein Pfeifen auf den Empfang einer Nachricht aufmerksam. Alles kein Problem.

Die Show geht zu Ende © Petra Häring-Kuan

Nur eine Viertelstunde Pause gönnen sich die Musiker, dann geht das Programm stramm weiter. Zum Schluss erneut ein Ritual. Rieu ruft: „Geht nach Hause!“ Das Publikum schreit zurück: „Nein!“ und schon folgt eine Zugabe und dann wieder: „Geht nach Hause!“ „Nein!“ Erst als die benachbarte Turmuhr zwölf Uhr Mitternacht anzeigt ist endgültig Schluss. Langsam leeren sich die Reihen. Die Busse sind in zehn Minuten Fußmarsch erreicht und schon geht es zurück nach Aachen. Um eins treffen wir im Hotel ein. Zufrieden und entspannt. Alle sind sich einig: das war ein gelungener Ausflug. Und auch ich denke: Einmal im Leben muss man das erlebt haben.

 

 

 

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