Berliner Waldbühne – Das Saison-Abschlusskonzert der Berliner Philharmoniker

Schon seit Wochen freute ich mich auf das Saison-Abschlusskonzert der Berliner Philharmoniker unter der Leitung ihres Chefdirigenten Kirill Petrenko. Auf dem Programm stand eines meiner liebsten Klavierkonzerte, das Zweite von Sergej Rachmaninow, mit dem Pianisten Daniil Trifonov. Traditionell feiern die Berliner Philharmoniker den Abschluss ihrer Konzertsaison immer in der Waldbühne, also unter freiem Himmel. Vor zwei Jahren fiel das Konzert Corona-bedingt aus. Letztes Jahr fand es statt, aber leider regnete es. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so oft wie in den Tagen vor diesem Konzert auf die Wetter-App meines Smartphones geschaut zu haben. Denn leider wurde auch dieses Jahr eine hohe Regenwahrscheinlichkeit prognostiziert. Zunächst waren es siebzig, dann – schon besser – etwas weniger, vierzig Prozent. Was also tun? Regenschirm aufspannen und Ärger mit anderen Zuschauern provozieren, wenn man ihnen die Sicht nimmt? Wir, drei Hamburger Mädels und erfahren mit jeder Art von Regen, entschieden uns für robuste Regenjacken.

Vier Tage vor dem Konzert erreichte mich plötzlich die traurige Nachricht, dass sich der Pianist verletzt hätte. Trifonovs Konzert in der Hamburger Laeiszhalle musste kurzfristig abgesagt werden. Drohte dem Konzert am 25. Juni in Berlin dasselbe Schicksal? Schon kurz darauf die gute Nachricht: Der Pianist Kirill Gerstein würde anstelle von Daniil Trifonov Rachmaninows Zweites Klavierkonzert spielen.

Am Tag des Konzertes fing es schon am frühen Nachmittag an zu tröpfeln und als ich bei Kaffee und Kuchen saß, folgten auch noch Gewitter und kräftiger Regenschauer. Konzertbeginn war um 20:15 Uhr, Einlass in die Waldbühne um 18 Uhr. Bereits kurz vor 18 Uhr machten wir uns zu zweit auf den Weg. Die dritte im Bunde übernachtete in einem anderen Stadtteil und wollte erst in der Waldbühne zu uns stoßen. Das Unwetter hatte sich verzogen, dennoch hingen noch immer dunkle Wolken am Himmel. Mit der S-Bahn ging es zunächst zur Station Pichelsberg. Alle Passagiere in dem gut besetzten Waggon schienen dasselbe Ziel zu haben. In heiterer Stimmung, fein herausgeputzt oder leger gekleidet, bepackt mit Sitzkissen, Regenjacken und Proviant, plauderten sie in verschiedensten Sprachen. Danach ging es die letzten 750 Meter zu Fuß in einer langen Kolonne zur Waldbühne. Schon von Weitem sahen wir die lange Schlange vor dem Eingangstor No. 5. Mindestens eine Stunde veranschlagten wir, um die Sicherheitskontrolle passieren zu können. Wie gut, dass wir so früh gekommen waren. Oder gab es noch ein weiteres Tor? Tatsächlich! Nach ein paar Schritten fanden wir einen anderen Eingang, vor dem nur wenige Besucher warteten. Bereits Minuten später schauten wir hinab auf das riesige Rund der Waldbühne.

© Petra Häring-Kuan

Die Waldbühne wurde anlässlich der Olympiade von 1936 als Teil des Olympiaparks erbaut. Damals hieß sie Dietrich-Eckart-Freilichtbühne, benannt nach einem überzeugten Nationalsozialisten und wichtigen Ideengeber Adolf Hitlers. Begriffe wie Führer als Bezeichnung für Adolf Hitler und Drittes Reich sollen von ihm geprägt worden sein. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Anlage in Waldbühne umbenannt.

Vorbild für den Bau waren antike griechische Theater. Die natürlichen Gegebenheiten des Geländes begünstigten die Planungen: der als Murellenschlucht bezeichnete Talkessel wurde auf der einen Seite durch den Pichelsberg begrenzt, der sich heute hinter der Bühne erhebt. Auf der anderen Seite lag der Murellenberg, an dessen Hängen die Zuschauerränge in leichter Steigung hochgebaut wurden, wodurch eine gute Akustik entstand. Mehr als 22 000 Zuschauer finden hier Platz, und so viele Menschen wurden auch an diesem Tag erwartet, denn das Konzert war ausverkauft.

Dank übersichtlicher Beschilderung und hilfsbereitem Personal fanden wir schnell unsere Plätze. Noch anderthalb Stunden blieben bis zum Beginn des Konzertes, Zeit genug, um das unterhaltsame Treiben um uns herum zu beobachten. Ein Paar in der Reihe hinter uns geriet in Streit, weil die Frau den Mann hier genauso herumkommandieren würde wie zuhause. Kaum hatte er sich gesetzt, sollte er schon wieder los spurten, um Getränke zu besorgen, worüber er sich lauthals beschwerte. Zwei Reihen neben uns packten vier Paare ein reichhaltiges Picknick aus und feierten ihr Beisammensein. In der Reihe vor uns rückte eine Großfamilie an mit Kindern von etwa vier und sechs Jahren und ebenfalls mit Picknick beladen. Immer mal wieder schauten alle gen Himmel, wo sich dunkle Wolken bildeten. Es wird doch nicht etwa regnen?! Verkäufer mit Bauchladen zogen durch die Ränge und boten Eis, Getränke und Brezeln an. Unentwegt strömten weitere Besucher die Stufen hinunter und nahmen ihre Plätze ein, manch ältere Herrschaften gestützt von jüngeren, hier und da auch jemand, der sich in bewundernswerter Weise auf Krücken hinunterquälte. Freunde der Großfamilie in der Reihe vor uns trafen ein und wurden mit großem Hallo begrüßt, Vater, Mutter und zwei Kinder. Die Neuankömmlinge ließen sich neben mir nieder. Einer der beiden Väter sauste los und kaufte mehrere große Tüten Popcorn. Die Kinder dankten es ihm begeistert, und ab sofort waren die Mütter abgeschrieben, die ihre Kleinen eigentlich mit Möhren- und Gurkensticks versorgen wollten.

Aber wo blieb die Dritte in unserem Bunde? Da traf eine Nachricht per WhatsApp ein. Nicht wirklich ortskundig war sie in die falsche S-Bahn gestiegen, würde aber wohl noch pünktlich eintreffen. Ich breitete derweil meine mitgebrachte Campingdecke auf unserer Sitzbank aus. Andere in unserer Nachbarschaft hatten aufblasbare Sitzkissen dabei, für einen langen Abend im Freien wirklich praktisch. Eine Viertelstunde vor Beginn waren wir schließlich vollzählig. Die Freundin hatte es geschafft, außer Atem und überglücklich.

© Petra Häring-Kuan

Und dann ging es endlich los. Orchester und Dirigent wurden stürmisch begrüßt. Kirill Petrenko strahlend und sympathisch, im Jahre 2015 von den Berliner Philharmonikern zum künstlerischen Leiter gewählt und seit der Saison 2019/20 offiziell im Amt des Chefdirigenten in der Nachfolge von Sir Simon Rattle. Als Auftakt folgte Kikimora von Anatoli Ljadow (1855-1914), eine symphonische Dichtung, die von einer kleinen Hexe erzählte. Wir hatten das Stück schon am Tag zuvor bei Youtube gehört, weil wir es, ebenso wie den Komponisten, nicht kannten – und waren schon nach wenigen Sekunden bezaubert gewesen. Welch eine Musik! Im Programmheft heißt es: „Die Musik ist von einer geheimnisvollen Atmosphäre in betörend sinnlichem Klanggewand.“ Treffender kann man es nicht ausdrücken, finde ich. Wer aber war dieser Anatoli Ljadow und wieso ist er weitgehend unbekannt? Geboren wurde er in St. Petersburg. Der Vater, Dirigent am Petersburger Mariinski-Theater, erkannte schon früh das Talent seines Sohnes, gab ihm ersten Unterricht und schickte ihn zu den besten Lehrern, unter anderem zu Rimski-Korsakow. Schon im Alter von 23 Jahren wurde Ljadow Dozent für Harmonielehre am St. Petersburger Konservatorium, später kam das Fach Kontrapunkt hinzu und 1906 wurde er vom selben Institut auch noch zum Professor für Komposition ernannt. Darüber hinaus wirkte er als Lektor in einem neu gegründeten Musikverlag. All dies beweist, dass er ein weithin geschätzter Pädagoge und Komponist gewesen sein muss. Doch leider galt er auch als Faulpelz, als jemand, der sein außergewöhnliches Talent nicht nutzte und nur einige kurze Orchesterstücke schrieb. Er bevorzugte ein friedliches, zurückgezogenes Leben und verbrachte die Sommer am liebsten auf seinem Landgut, was man ihm eigentlich nicht verübeln kann. Trotzdem erregten sich wohl einige Gemüter über seinen Lebensstil. Auch sein Lehrer und lebenslanger Freund Rimski-Korsakow bescheinigte ihm große musikalische Begabung, aber katastrophale Faulheit. Tatsächlich machte er wohl nur das, wozu er wirklich Lust hatte. Als man ihn beauftragte, ein Märchenballett zu komponieren, das in Paris uraufgeführt werden sollte, und der Auftraggeber nach monatelanger Zeit des Wartens ungeduldig nach dem Werk fragte, soll Anatoli Ljadow freundlich erwidert haben, dass er zumindest schon das Notenpapier gekauft hätte. Daraufhin ging der Auftrag an den damals noch unbekannten Igor Strawinsky, der mit seinem Werk Der Feuervogel zu Weltruhm gelangte.

Obwohl das Konzert längst begonnen hatte, trafen weitere Zuschauer ein und suchten nach ihren Plätzen. Niemand störte sich daran, denn man nahm sie kaum wahr und hörte sie auch nicht. Die Anlage ist eben einfach sehr groß.

Zehn Minuten später betrat Kirill Gerstein die Bühne. Wie Kirill Petrenko stammt auch er aus Russland. Geboren 1979 in Woronesch, im südlichen Zentralrussland, begann er bereits im Alter von drei Jahren seine Ausbildung. Durch die Vorlieben seiner Eltern lernte er nicht nur die klassische Musik kennen, sondern auch den Jazz, für den er sich zunächst entschied, nachdem er ihn im Alter von zwölf Jahren in St. Petersburg live gespielt erlebte. Daraufhin ging er zum Studium in die USA, studierte drei Jahre lang Jazz, kehrte dann aber zur Klassik zurück und begann im Jahre 2000 seine Weltkarriere. Ausgezeichnet mit vielen Preisen gastierte er bereits 2016 mit Rachmaninows Zweitem Klavierkonzert bei den Berliner Philharmonikern.

© Petra Häring-Kuan

Auf den Rängen sitzend, das Zuschauerrund und die Bühne im Blick und über uns der helle Himmel einer warmen Sommernacht. Wir lauschten der wunderbaren Musik des Sergej Rachmaninow (1873-1943). Kaum vorstellbar, dass diesem Werk eine tiefe Schaffenskrise vorausgegangen war, nachdem seine Erste Symphonie beim Publikum und bei der Kritik durchgefallen war. Eine Therapie bei dem Psychiater Nikolai Dahl, dessen Behandlungsmethode auch die Hypnose einschloss, erlöste Rachmaninow aus der Krise. Voller Dankbarkeit widmete er dem Psychiater dieses Zweite Klavierkonzert.

Kraftvoll und sensibel zugleich dirigierte Kirill Petrenko sein Orchester. Das fiel auch den Kindern vor und neben uns auf und inspirierte sie zum Nachahmen der oft ausladenden Bewegungen. Während der folgenden Pause erklärte ihnen einer der beiden Väter, was es mit Petrenko auf sich hatte. Er sei von seinem Orchester zum Dirigenten gewählt worden. „Versteht ihr?“, fragte der Vater. „Die Musiker wollten ihn unbedingt haben.“ Die Kinder nickten beeindruckt und folgten andächtig der zweiten Hälfte des Konzertes:  Modest Mussorgskys Bilder einer Ausstellung.

Mussorgsky (1839-1881) hatte den Zyklus 1874 für Klavier komponiert, inspiriert durch die Retrospektive seines kurz zuvor verstorbenen Malerfreundes Viktor Hartmann. Erst 1922 übernahm Maurice Ravel die Orchestrierung des Stückes. Die Zeichnungen und Bühnenentwürfe des Freundes trugen Titel wie Der Gnom, Die Tuilerien, Ballett der Küken in ihren Eierschalen und Das große Tor von Kiew.  Mussorgsky verwandelte sie in atemberaubende Klanggemälde, die er mit dem wiederkehrenden Thema der Promenade, seinem Gang durch die Ausstellung, grandios verband.

© Petra Häring-Kuan

Drei russische Komponisten – war das zu viel des Guten? Anders als jene Zuschauer, die am Fernsehbildschirm die Liveübertragung des Konzertes verfolgten, erfuhren wir während der Pause nichts zu den laufenden Diskussionen, die über das diesjährige Saison-Abschlusskonzert geführt wurden. War es politisch korrekt, dass sich die Berliner Philharmoniker für ein rein russisches Programm entschieden hatten, auch wenn die Planungen hierzu schon lange vor dem russischen Angriff auf die Ukraine begonnen hatten? Wäre es richtiger gewesen, das Programm zu ändern? Aber stehen Ljadow, Rachmaninow und Mussorgsky für Putin? Das Publikum in der Waldbühne fällte ein klares Urteil. Die Berliner Philharmoniker und ihr Chefdirigent Kirill Petrenko wurden begeistert gefeiert.

Als Zugabe erklang Peter Tschaikowskys Pas de Deux aus dem Nussknacker und zum Schluss natürlich – so will es die Tradition – Paul Linckes „Berliner Luft“.

Welch ein Abend! Welch ein einzigartiges Musikerlebnis! Wir drei schauten uns an und es war klar: Im nächsten Jahr kommen wir wieder.

© Petra Häring-Kuan

Dann meine bange Überlegung, wie wohl über 20 000 Menschen zur selben Zeit die Waldbühne verlassen würden. Aber alle blieben entspannt und soweit ich es erlebte, verhielten sich die Leute rücksichtsvoll und verzichteten auf jedes nervöse Gedränge. Grenzwertig dagegen gestaltete sich die Heimfahrt mit der S-Bahn. Zunächst die Bahnsteige, die voller Menschen waren, und kaum fuhr eine Bahn ein, wurde sie auch schon gestürmt. Eng aneinander gequetscht standen die Passagiere in den Gängen, und weil die ohnehin schon volle Bahn auch noch an der nächsten Station hielt, drängten weitere Fahrgäste hinein. Erst nach drei, vier Stationen entspannte sich die Lage, als die ersten Passagiere ausstiegen.

Zwei Tage später meldete sich die Corona Warn-App auf meinem Handy und zeigte eine Begegnung mit erhöhtem Risiko am 25.6.2022 an. Ich habe da so eine Ahnung, wo das gewesen sein könnte.

 

 

 

 

1 Kommentar
  1. Ganz wunderbar! Das Stimmungsbild auf dem Weg zur und in der Waldbühne. Die Informationen zu den Komponisten und den Stücken. Bilder einer Ausstellung – eine meiner hoch favorisierten Kompositionen. Mal wieder ein Genuss, Petras Erzählung zu lesen!

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